Die Zunge Europas
drei Zentimeter, mindestens. Ergebnisorientiertes Gehen. Marschieren statt schlendern. Im Wort schlendern ist der Schlendrian ja schon enthalten. Noch haltloser ist trödeln. Wer schlendert oder trödelt, akzeptiert, dass er nicht mehr ist als eine Papierschwalbe, die ziellos mal da- und mal dorthin treibt. Stapfen (Schnee) ist die winterliche Variante des Marschierens, also genehmigt, Bummeln nur beiBeerdigungen und zu Feiertagen. «Klare, gerade Menschen sind ein gutes Ziel, Menschen ohne Rückgrat gibt es schon zu viel», wie Trauerkloß Bettina Wegner in einem ihrer lichten Momente formuliert hat. Ihr größter Hit, irgendwas mit klein.
«Sind so kleine Fingers aus Knorpel, Haut und Blut,
darfst du nicht drauf schlagen, Fingers gehn kaputt.
Sind so kleine Füßkens, mit winzig kleinen Zeh’n,
darfst du nicht drauf tretmach, Füß könn sonst nicht gehn.
Sind so kleine Kerlkes, mit Köpke, Arm und Bein,
musst sie immer lieb ham, Kerlkes tun sonst schrein.
Sind so kleine Kerlkes, mit Augen, Ohr und Nas,
musst sie immer streicheln, verfallen sonst dem Hass.
Auch der Adolf Hitler war ein toller Hecht,
als er ein kleins Kerl war, später wurd er schlecht.
Selbst der Josef Stalin war zart mit süße Ohr,
später lief viel schief, und er wurd Diktator.»
Sinngemäß.
Das war ein ebenso anstrengender wie aufregender Vormittag gewesen. Ich legte mich aufs Sofa. Vielleicht eigneten sich die Texte als Kolumne für eine Spezialzeitschrift: «Spex». «Visions». «Intro». Oder: «Wild und Hund» . (Themen der aktuellen Ausgabe: 1. Die schönsten Jagden von Flensburg bis Bayrischzell. 2. Im Test: zwanzig neue Pirschstiefel. 3. Der Marder: Waidwund und immer noch gefährlich. 4. Ab heute neu: «Jägerlatein», die nicht ganz ernst gemeinte Kolumne von Autor M. Erdmann. Folge eins: «Das Spaßbad – Hassbad».)
Egal, später, erst mal Fernsehen, zur Belohnung. Auf den Sendeplätzen zwischen eins und drei tummelt sich der klägliche Rest der Dailytalks. 13 Uhr
Britt
auf SAT1 und direkt im Anschluss um 14 Uhr auf RTL die «Oliver Geissen Show». Früher hatte der Talktag um 10 Uhr vormittags mit
Sabrina
(kann sich eh kein Mensch mehr dran erinnern, außer Sabrina selber und mir) begonnen und erst um 17 Uhr mit
Hans Meiser
geendet.
Britt
besteht eigentlich nur noch aus Lügendetektortests (Britt zahlt deinen Lügendetektortest!). Untertitel: Britt deckt auf. Themenvarianten: 1. «Du Schwein! Heute kommt alles raus». 2. «Du Sexsau. Sag endlich die Wahrheit: Von wem ist das Kind wirklich?» 3. «Du Schwein. Du verdammte Sexsau!» Zahnlose Honks bezichtigen sich gegenseitig der Untreue. Schattenwand!Kontoauszüge! Milchglasscheibe! Wärmebildkamera! SM S-Kontrolle ! Darmspiegelung! Und natürlich LÜGENDETEKTORTEST. Eine Frau, die die Schwester von Birgit Brunau hätte sein können, wirft ihrem «Verlobten» vor, sich regelmäßig mit anderen Frauen zu vergnügen. O-Ton : «Ich sitz allein zu Hause, und er haut sich die Falten aus dem Sack.» . (Man kann sich immer gar nicht vorstellen, dass das alles Vielficker sein sollen.) Achjeachje. Anstrengend. Vor allem zu laut, mir war nach Gediegenem zumute, Arte, Phoenix, Bibel-TV, so was in der Richtung. Auf 3SAT die Gesprächsreihe «Vis-à-Vis». Zu Gast: Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann (schon wieder Sepp Ackermann). Der Schweizer sprach schön legato, ein Wort klebte am anderen, guter Sound. Überhaupt machte er einen ausgesprochen gewinnenden Eindruck. Ob Neupositionierung an hochmargigen Wachstumsfeldern, partielle Radikalisierung der Binnenmärkte oder suboptimale Allocation: Ackermann verkörpert wie kein Zweiter die menschliche Seite einer feindlichen Übernahme.
Der Global player ist kein onkelhafter Gewaltherrscher, sondern der Kumpeltyp von nebenan! Auch unverschämte Fragen nach seinen Einkünften beantwortet er ruhig und besonnen. «Die monetäre Performance ist integraler Bestandteil des Salärs.» Kann man es eleganter formulieren? Eben nicht. Deshalb ist der Reporter Reporter und Josef Ackermann Josef Ackermann. Genug entspannt, ich schaltete wieder zu «Britt». Zwei Männer stritten darüber, wer seine Ehefrau öfter und doller verprügelt: «Wenn sich deine Frau ausziehen würde, dann hätte sie viel mehr blaue Flecken als meine.» Wasserdichte Argumentation. SeinKontrahent flippte daraufhin vollkommen aus und wurde von Britt des Studios verwiesen. Das Gespräch nahm dann doch noch ein versöhnliches
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