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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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DOCH GESEHEN HABEN, DASS HIER NOCH ZWEI PLÄTZE FREI SIND. MANCHMAL VERSTEH ICH DICH WIRKLICH NICHT!»
    Allerdings! Sie war einfach nicht in der Lage, sich in einen pubertierenden Jungen hineinzuversetzen, sie begriff nicht, dass sie mich bis auf die Knochen blamierte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich durch den ganzen Bus wieder nach vorn zu kämpfen und neben sie zu setzen.
    «Mama, kannst du nicht ein bisschen leiser reden? Das müssen doch nicht alle mitkriegen.»
    «SO? MIR IST EGAL, OB IRGENDJEMAND ZUHÖRT ODER NICHT. ICH LASSE MIR AUSSERDEM VON NIEMANDEM DEN MUND VERBIETEN, UND SCHON GAR NICHT VON MEINEM HERRN SOHN!»
    Oneinoneinonein. Sie konnte mit mir nichts anfangen, und ich nichts mit ihr, so einfach war das. Das sollte meine Mutter sein? Unmöglich. Vertauscht, ich war als Baby vertauscht worden! Meine Mutter hatte in der kurzen Zeit, in der ihre Existenz auf meine einwirkte, ganze Arbeit geleistet, ein Gespenst aus Druck, Schuld, Trauer, Enttäuschung und, um dem allen die Krone aufzusetzen,absoluter Humorlosigkeit. Eigentlich lachte sie überhaupt nicht, und wenn, dann nur zu amtlich beglaubigten Anlässen (fünfte Jahreszeit) aus den falschen Gründen über die falschen Sachen. Der Einzige in unserer Familie, der Humor hat, ist Onkel Friedrich. Häufig derb, aber immer lustig. Für meine Mutter war Onkel Friedrich natürlich das Letzte: «So, Markus, jetzt will ich dir mal was sagen: Onkel Friedrich ist ein ganz schlimmer Prolet. Außerdem raucht er, und Raucher sind alles Schweine. Ich begreife nicht, wie du über seine schweinischen Witze lachen kannst. Bist du denn wirklich so dumm? Du enttäuschst mich wirklich.»
    Das sitzt bis zum Ende des Lebens. Jede Frau, die neu in mein Leben tritt, eine Wiedergängerin meiner Mutter, eine, die das schlechte Gewissen verwaltet und dafür sorgt, dass der Strom der finsteren Gefühle niemals versiegt. Schuld erzeugt Schuld und Schuldesschuld und Schuldesschuldesschuld, und irgendwann versinkt das Leben in einer nicht mehr zu tilgenden Schuldenlast. Zum Glück war sie früh aus meinem Leben verschwunden, einfach abgehauen mit dem Neuen, der mit mir nichts anfangen konnte und wollte. Die Drecksau hatte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, vor die Alternative gestellt: Entweder ich oder dein doofer Sohn. Ein ganz schlimmer Mann, ich glaube sogar: ein böser Mann. Einmal, als ich mit ihm allein war, hat er mir seinen Zeigefinger in die Wange gedrückt und rumgebohrt. Ich begriff nicht, was das sollte, und war ganz starr vor Schreck. Nach einer Weile sagte er: «Merkst du das, Markus, du bist ganz weich. Guck mal, wenn ich hier einen Finger reinstecke, kommt er auf der anderen Seite wiederraus.» Das war eine der schrecklichsten Sachen, die je ein Mensch mit mir gemacht hat.
    Wenigstens musste ich nicht ins Heim und wurde außerdem von allen bedauert. Die einhellige Meinung: der arme Markus. Das ungeliebte Kind. Daran wird er zerbrechen. Von wegen. Ich war erleichtert über ihren Abgang gewesen, wirklich unendlich erleichtert, denn ich wusste, dass es mein ganzes Leben lang so weitergegangen wäre. Ein Psychiater hätte natürlich schon von Berufs wegen eine ganz andere Meinung. Soll er, kann er, interessiert mich nicht. Ich bin erwachsen und möchte nicht therapiert werden. Ich möchte auch nicht beraten werden. Beratung kommt für mich zu spät. Ich möchte niemandem gegenübersitzen und falsche Fragen beantworten. Die wesentlichen Fragen habe ich mir alle bis zum Erbrechen selbst gestellt, die anderen stellen ausschließlich Trivialfragen.
     
    Der Waggon war für die Tageszeit ziemlich voll. Direkt an der Tür nestelte ein attraktives Pärchen verliebt aneinander herum. Nesteln, fummeln, tatschen, schmusen. Hässliche Menschen trauen sich öffentlich nur herumzuirgendwas, wenn sie besoffen mit dem Nachtbus unterwegs sind. Nüchtern schämen sie sich ihrer Existenz, machen sich so klein wie möglich und hoffen, dass alles schnell vorbeigeht. Direkt vor Sonjas Haus
ist eine Bushaltestelle untergebracht
(haha, das wollte der Lektor rausnehmen, ich hab mich durchgesetzt), in der es regelmäßig hoch hergeht: Patienten aus der benachbarten Tagesklinik (Down-Syndrom) überbrücken die Wartezeit mit Zungenküssenund Heavy Petting. Völlig ungeniert. Manchmal schaue ich mir das verdorbene Treiben vom Balkon an. Die haben’s gut, können machen, was sie wollen, sind für nichts verantwortlich. Die Omas gehen trotz schwerer Beine meist eine Haltestelle weiter,

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