Die Zunge Europas
stummer Protest, mehr können sie nicht machen, da die Heimleitung die zahlreichen Beschwerden zwar zur Kenntnis nimmt, jedoch keine entsprechenden Maßnahmen einleitet. Die armen Mogos. Haben nicht viel vom Leben, essen, grapschen und früh sterben.
Die Bahn fuhr und fuhr nicht. Sonja ballte die Hände zusammen, ihre Knöchel traten hervor und wurden kalkweiß. Sie kochte innerlich. Meine Güte, die Wutschwelle sank mit jedem Tag ein Stückchen mehr, bald würde sie einen Zigarettenautomaten aus der Verankerung prügeln, nur wenn ein Münzstück durchfiel. Wo sollte das nur enden?
Dann entfuhr ihr vollkommen überraschend etwas Seltsames und sehr Komisches: «Nun fahr schon los, du schwuler Zug.» Schwuler Zug. Früher hatte sie so was öfter gebracht. Ich unterdrückte ein Lachen, da ich befürchtete, sie könnte es als Auslachen missverstehen. Missverständnisse, nichts als Missverständnisse, alles zwischen uns bestand aus Missverständnissen.
«Warum fährt die Kackbahn nicht endlich ab?»
«Ich weiß es doch auch nicht.»
Ich hauchte vor Langeweile an die Scheibe, eine Angewohnheit von früher. Wie lange man wohl an die Scheibe hauchen muss, um ein Schnapsglas zu füllen? Wieder eine Frage für ein T V-Wissensmagazin . Bewegt sich die Tankanzeigenadelauch nach oben, wenn man statt Benzin Apfelschorle einfüllt? Verlaufen Sitzfalten überwiegend diagonal oder horizontal? Endlich das erlösende Fiepen.
Piep, piep piep.
Leise machte ich das Geräusch mit. Mehr hüt als piep. Hüüt. Oder noch genauer üüt, ohne h. «Üütüütüütütütütütüt». In letzter Sekunde stürmte ein sehr dicker Mann mit aller Macht in die sich schließende Tür. In der einen Hand hielt er ein dampfendes Stück Pizza, mit der anderen drückte und zog und presste er. «ZURÜCKBLEIBEN! BITTE NICHT MEHR EINSTEIGEN!» Keuchend und mit hochrotem Kopf gelang es ihm, sich doch noch hereinzuzwängen. Sonja konnte sich kaum beherrschen. Ich schaute sie an und las den genauen Wortlaut über ihrem Kopf:
«WAS FÄLLT DIR HÄSSLICHEM KLUMPEN TALG EIN, DIE ABFAHRT DES ZUGES ZU VERZÖGERN? MIT KRÄFTIGEN TRITTEN IN ARSCH UND HODEN GEHÖRST DU DORTHIN GEPRÜGELT, WO DEIN PLATZ IST: AUF DIE GLEISE! LOS HINUNTER, DU BIST GERADE GUT GENUG, DIE SCHIENEN BLANK ZU LECKEN!»
Sollte sie es doch endlich mal sagen! Es rauslassen!
Der Dicke guckt betreten zu Boden und versucht, noch ganz außer Atem, sich klein und unauffällig zu machen. Ein Ding der Unmöglichkeit, denn alles an ihm ist groß und auffällig. Blitzschnell verbreitet sich unerträglicher warmer Salamigestank. Er hatte nach der Arbeit so schrecklichen Hunger gehabt, dass er es bis zu Hause nicht mehr aushalten konnte, aber jetzt würde er sich das Drecksessen am liebsten in den Schritt stopfen, nur, um nicht so böse angestarrt zu werden. Er trägt einen blauen Arbeitsoverall,und seine Füße in der Größe amerikanischer Profi-Basketballspieler stecken in klobigen Sicherheitsstiefeln. Wie das wohl riecht, wenn er die auszieht? Lieber nicht drüber nachdenken. Der arbeitet bestimmt bei der Müllabfuhr oder Sperrmüllabfuhr oder Altkleiderabfuhr oder irgendeiner anderen Abfuhr, bei dieser Hitze trägt doch kein normaler Mensch solche Behindertenschuhe. Das Pärchen ist sichtbar angeekelt und rückt demonstrativ ab von ihm, das Schwein soll spüren, dass es ein Schwein ist, ein ekelhaftes Schwein.
Aus seinen Leberflecken am Hals sprießen dunkle Borsten. Ein Borstenschwein. Nase, Ohren, Zehen, Arschritze, Bauchnabel, aus allen Ritzen und Falten kommen diese ekelhaften, dicken Haare gekrochen. Gestern Abend erst hat er kontrolliert, da war noch alles in Ordnung, glatt wie ein Babypopo, woher in Gottes Namen kommen nur diese Wachstumsschübe? Aber nicht nur die Haare: Leberflecken, Warzen, Schuppen, Placken, Grieben, Schmutzinseln, Drecksatolle, käsige Gerinnsel, er ist regelrecht eingedunkelt. Sein Fleisch sieht aus, als hätte man es ausgeschabt, mit Döner vermischt und vermittels einer Spritztüte wieder eingefüllt, seine Hände sind Pfoten, die Füße Tatzen, die Brüste Zysten. Sein einziges Hobby: Er legt sich nachts auf die Straße und lässt sich überrollen, nur zum Spaß, weil er das Brechen, Splittern und Reißen der Knochen so mag. An irgendjemanden erinnerte er mich. Irgendeine Zeichentrickfigur, eine Karikatur, einen Comic-Helden. Seine Schultern sind verhältnismäßig schmal, der Oberkörper wird zur Mitte immer gewaltiger und läuft in einem riesigen, birnenförmigen
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