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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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dich beeilst, schaffst du ihn.»
    «Danke. Also, mach’s gut.»
    «Du auch. Alles Gute.»
    «Jetzt muss ich aber wirklich. Tschüs.»
    «Tschüs.»
    Sie hat es mit einem Mal sehr eilig. Ich winke ihr versonnen hinterher. An der Ecke Marienkäfer-/​Sandkäferweg dreht sie sich ein letztes Mal um. Die Hauptstraße ist nur noch wenige Meter entfernt, man hört schon den Bus kommen. Sie nimmt die Beine in die Hand, dann ist sie verschwunden. Der Hüne tippt mir sacht auf die Schulter und holt mich in die Wirklichkeit zurück.
    «Sie sollten jetzt wirklich ins Haus gehen bei der großen Hitze. Zur Eingewöhnung werde ich Sie heute mal begleiten.»
     
    Großmutter öffnete erst nach dem fünften oder sechsten Läuten (sie weigert sich beharrlich, ein Hörgerät zu tragen, weil das angeblich so
schrecklich alt
aussieht). Ihre schlohweißen Haare waren ganz durcheinander, und am Hals klebte ein Klecks Schlagsahne, von dem ein dünner, milchiger Faden auf ihr Kleid rann. Sie wirkte gehetzt und erschöpft.
    «Da seid ihr ja endlich.»
    «Nicht endlich. Da sind wir. Immer sagst du, wir wären
endlich
da, egal, ob wir zu früh, zu spät oder auf die Minute pünktlich sind. Und jetzt sind wir genau eine Minute zu früh. Also bitte nicht immer endlich sagen.»
    Sie guckte mich ganz traurig an.
    «Ach, Markus, nun sei doch nicht gleich wieder so.»
    «Unsinn. Als ob ich immer gleich so wäre.»
    Was soll das überhaupt bedeuten, gleich so sein? Schwammiges Gequatsche.
    «Ach, Markus.»
    «Ja, ist ja gut. Wo ist Opa überhaupt?»
    «Hinten auf der Terrasse.»
    «Auf der Terrasse? Bei der Hitze?»
    «Er wollte unbedingt.»
    «Na gut, dann lass uns mal.»
    Opa saß zusammengesunken am Gartentisch. Sonja gab ihm ein Küsschen, Opa drückte ihr die Hand.
    «Herzlichen Glückwunsch. Na, du hast dir heute aber ein Geburtstagswetter ausgesucht.»
    Sie legte ein in rotes Geschenkpapier verpacktes Bündel auf den Tisch. Opa machte nicht viel Federlesen und rupfte es auf. Rupfen konnte er immer noch gut. Ein Pyjama. In Rot, praktisch wie das Papier. Auch alte, verwirrte Menschen freuen sich nicht
automatisch
über alles. Ich drückte ihm das Messer in die Hand, ohne Geschenkpapier. «Hier, Opa, aber nicht schneiden!» Opa, der praktisch sein halbes Leben im Bombenhagel verbracht hatte, klappte jede Klinge einzeln auf und wieder zu. Waffen, Krieg, Schießereien, das kriegt man nie mehr weg. Oma bekam es mit der Angst zu tun. Nachher, wenn wir weg waren, würde sie ihm das Messer wegnehmen. Am nächsten Tag würde er sowieso alles vergessen haben, den Pyjama, das Messer und den Geburtstag sowieso. «So, Sonja, wir gehen mal in die Küche und lassen die Männer allein.»
    Opa hielt das Messer fest umschlossen. In Stahlgewittern, gleich kommt der Feind. Der eingesunkene Brustkorbhob und senkte sich. Er machte den Mund auf und zu und sah aus, als würde er bis zum Abend verdurstet sein. Wie er so klein und zusammengefaltet im Gartenstuhl eingesunken war, konnte ich mir noch weniger vorstellen, dass er mich jahrelang in Angst und Schrecken versetzt hatte. Opa schabte mit der scharfen Klinge an dem uralten Gartenmöbel herum. Dann drehte er an seinem Ehering herum und schaute mich aus verschlierten Augen an.
    «Das freut mich aber, dass du gekommen bist. Wie geht es dir denn, mein Junge?»
    «Ach, es geht so. Mir macht die dauernde Hitze zu schaffen.»
    «Mir auch, Markus, das darfst du glauben.»
    «Aber du bist doch heute die Hauptperson, wie geht es dir denn?»
    «Mir geht es gar nicht gut. Ich hab Angst.»
    «Wieso das denn? Wovor hast du denn Angst?»
    «Dass ich bald sterben muss. Ich behalte gar nichts mehr. Oma geht es auch schlecht. Das sagt sie bloß nicht.»
    Es war sehr heiß und still. In seinen aschfahlen Zügen war der Widerschein der verlorenen Lebensmühe und der düsteren Eintönigkeit seines Kampfes zu erkennen. Der sich zersetzende Geist, die Hilflosigkeit, das Elend seiner Beschränkungen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die auf den hellen Sommeranzug tropften. Meine Eingeweide klumpten sich zusammen, ich wurde überwältigt von Zuneigung und Zärtlichkeit. Ich erinnerte mich plötzlich an ganz früher, als ich klein gewesen und jeden Sonntagmorgenzu ihm ins Bett gekrabbelt war, während Oma schon längst in der Küche vor sich hin wuselte. Die Zeit zwischen neun und elf gehörte uns und Opas Abenteuern aus dem Zweiten Weltkrieg, an dem er als einfacher Soldat teilgenommen hatte. Den anderen Kindern wurden Märchen

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