Die Zunge Europas
Po aus. Sein dünner, zerzausterSchnauzbart und die wenigen, zu einem Zopf gebundenen Haare, es lag mir auf der Zunge, und endlich hatte ich es: Obelix! Bestimmt heißt er Frank oder Thomas, aber seit der Kindergartenzeit nennen ihn alle Obelix, selbst seine Mutter hat seinen richtigen Namen vergessen. Zum Geburtstag bekommt er als Running Gag Hinkelsteine geschenkt, mittlerweile ist seine gesamte Wohnung damit vollgemüllt. Ein schrecklicher Gag. Ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett, ein Schrank und Dutzende Findlinge. Sie wegzuschmeißen traut er sich nicht, weil er seine wenigen Freunde nicht verprellen will.
Der Pizzageruch ist unerträglich, das schöne Pärchen hält sich demonstrativ die Nase zu. Obelix stopft den Müllfraß mit seinen verdreckten Pranken in so rasender Geschwindigkeit in sich hinein, als würde er an einem Schnellfresswettbewerb teilnehmen. Menschen wie er haben ihr Recht auf Genuss verwirkt. Sie haben im Grunde genommen ihr Recht auf alles verwirkt. Die Würde des Menschen ist unantastbar? Hahaha, dreimal laut gelacht. Vor Angst und Aufregung sifft er seinen Overall mit Tomaten, Zwiebeln und Salamischeiben voll. Er wischt sich mit dem Ärmel über die Lippen, aus dem rechten Mundwinkel hängt ein Käsefaden, der Bart ist dunkelrot von Soße. Aus Versehen (Aufregung) rülpst er. Die Schönen sind fassungslos. Das ist doch kein Mensch mehr. Für ihn und die gesamte Menschheit wäre es besser, wenn er endlich sterben würde, sterben könnte. An der nächsten Station können sie aussteigen, endlich. Die Frau bleibt demonstrativ vor Obelix stehen, damit der die verdammte Tür frei macht. Er schaut auf den Boden und rollt sich regelrechtein. Ihn mit sehr bösem Blick fixierend, quetscht sie sich an ihm vorbei. Obelix schaut auf den Boden und rollt und rollt und rollt sich immer weiter ein, bis er endlich zu seiner wahren Form findet: der einer Schnecke. Doch das reicht nicht. Kleiner und kleiner und kleiner muss er sich machen, bis er endlich vom Erdboden verschwunden ist. Oder explodiert. Lange kann es nicht mehr dauern, und der eingelagerte Schmerz seines ganzen Lebens löst sich in einer gewaltigen Explosion.
Birgit und ihre Crew hatten vor der Dönerbude Stellung bezogen. Es war das erste Mal, dass Sonja ihnen begegnete. «Was sind denn das für welche? Wo kommen die denn plötzlich her? Gibt es in der Gegend seit neuestem Penner?» – «Keine Ahnung.» Ich hatte ihr nichts erzählt. Träge schoben wir uns zur Käfersiedlung, zwei Panzer mit zerschossenen Ketten, russische T-34 aus dem Zweiten Weltkrieg oder der träge deutsche Riesenpanzer Tiger, der dem Feind ein derart gutes Ziel bot, dass er trotz überlegener Feuerkraft wie eine Tontaube abgeschossen wurde.
Ob es so etwas wie eine offizielle Altersgrenze gibt, ab der man in die Käfersiedlung eingezogen wird? Der hünenhafte Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes hindert mich freundlich, aber bestimmt am Verlassen der Siedlung:
«Herr Erdmann, nichts für ungut, aber Sie bleiben hier.»
«Aber mein Bus, ich muss doch meinen Bus …»
Der Privatsheriff unterbricht mich mit ruhiger Stimmeund deutet auf das amtliche Formular, auf dem es schwarz auf weiß steht, mit dem Amtssiegel des Bezirksamtes Hamburg-Nord: In der Angelegenheit Zwangsumsiedlung Markus Erdmann …
«Sie müssen Ihren Bus nicht mehr erreichen. Sie sind in Ihrem Leben schon viel zu viel Bus gefahren.»
Er legt seinen muskelbepackten Arm um meine Schultern und deutet mit dem Kopf in Richtung Sandkäferweg. «Da drüben wohnen Sie jetzt, Nummer 67. Gehen Sie gleich dorthin und legen sich ein Stündchen aufs Ohr, Sie sehen müde aus.»
Ich habe immer noch nicht verstanden.
«Sie bleiben ab heute bei uns. Sie werden sehen, wie wohl Sie sich fühlen. Schauen Sie sich um, alles für den täglichen Bedarf ist vorhanden. Ein Kaufmannsladen. Ein praktischer Arzt, der ambulant auch kleinere Operationen vornimmt. Eine Apotheke. Ein Sanitärfachgeschäft. Ein Drogeriemarkt. Und ganz viele Briefkästen.»
Widerstand zwecklos. Dann ist das wohl so. Sonja zögert, sie weiß nicht, ob die Anordnungen auch für sie gelten, sie wird jedoch von dem freundlichen Riesen durchgewinkt.
«Sie dürfen sich jetzt voneinander verabschieden.»
Er dreht sich für diesen privaten Moment diskret zur Seite.
Etwas scheu reichen wir uns die Hände, zum vermutlich letzten Mal.
«Tschüs, Sonja.»
«Tschüs, Markus, tut mir leid du. Der Bus …»
«Kein, Problem. Wenn du
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