Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
Vom Netzwerk:
aufgetischt, mir wahre, selbsterlebte Geschichten! Dass sie sich nach kurzer Zeit wiederholten, war vollkommen egal. Die Top-Story hätte ich mir immer wieder anhören können. Es ging quasi um Befehlsverweigerung:
    Opa war nach einem zehnstündigen Gewaltmarsch vollkommen am Ende gewesen und hatte die verdiente Pause herbeigesehnt. Endlich war es so weit: Rucksack ab, Gewehr ab, Schuhe aus und im Kreis der ebenfalls bis auf die Knochen erschöpften Kameraden eine schöne heiße Suppe löffeln. Doch plötzlich, Opa hatte die Suppe noch nicht mal zur Hälfte aufgegessen, hieß es schon wieder: Abmarsch! Was zu viel ist, ist zu viel, scheiß aufs Kriegsgericht, scheiß auf den Führereid, Opa blieb sitzen und löffelte weiter. Der Kompanieführer brüllte und tanzte um ihn herum wie ein wild gewordenes Rumpelstilzchen, doch Opa ließ sich nicht beirren. Soll er mich doch erschießen! Und das Wunder geschah: Der Leutnant ließ Gnade vor Recht ergehen und die Angelegenheit auf sich beruhen. Keine Strafe. Kein Kriegsgericht. Wahnsinn. Großvater war Widerstandskämpfer gewesen, beinahe jedenfalls.
    Manchmal beschlichen mich
leichte
Zweifel über den Wahrheitsgehalt dieser und anderer ziemlich sagenhafter Geschichten, doch Großvater war ein Ehrenmann, der inseinem ganzen Leben noch nie gelogen hatte, niemals, keine Ausreden, keine Ausflüchte, keine Notlügen, keine Halbwahrheiten, kein Jägerlatein, kein nichts. Nur bei der einen Frage, die kleine Jungs naturgemäß am brennendsten interessiert, hatte er aus möglicherweise pädagogischen Gründen möglicherweise geflunkert. «Opa, hast du auch jemand totgeschossen?» Die unbefriedigende Antwort: Das wisse er auch nicht so genau, er könne es nicht hundertprozentig ausschließen, aber erschossen, also Aug in Aug, oder mit dem Bajonett aufgeschlitzt habe er niemanden. Man habe den Feind häufig nicht erkennen können aus den großen Entfernungen, und wer könne schon genau sagen, welche Kugel tödlich gewesen sei. Und das wolle man auch gar nicht wissen.
    Es war schön warm im Bett, Opa genoss das Opasein und ich das Enkelsein, und von mir aus hätte es so weitergehen können bis ans Ende aller Zeiten. Doch von einem Tag auf den anderen war Schluss mit Geschichten und Gekuschel. Eines verregneten Sonntagmorgens verweigerte er mir den Eintritt. Begründung: Ich sei jetzt kein kleines Kind mehr. Er schien sich verpflichtet zu fühlen, den fehlenden Vater zu ersetzen und mich zu einem Mann zu erziehen, einem Mann, wie er selbst einer war, einer, den Disziplin und eiserner Wille durchs Leben peitschen. Da das Leben keine Rücksicht auf ihn genommen hatte, nahm er auch keine auf mich. Und auch auf sonst niemanden, noch nicht mal auf die Großmutter.
    Weil er das Kind armer Leute gewesen war, hatte er nur die Volksschule besuchen dürfen und im Anschluss eine Schlosserlehre gemacht. Dann brach auch schon derverdammte Krieg aus, und nachdem er den überstanden hatte, erwischte ihn im Hungerwinter 1946 eine Rippenfellentzündung, an der er fast krepiert wäre. Es folgten harte Gesellenjahre in den Wilhelmsburger Zinnwerken. Tagsüber rackern, nach Feierabend Abendschule und am Wochenende lernen. Nur einmal im Jahr gönnte er der Großmutter und sich eine zweiwöchige
Sommerfrische
in Berchtesgaden. Doch mit vierzig hatte der zähe, harte Mann, den seine Kollegen spöttisch «den Halben» . (Opa maß nur 1,64, jetzt noch weniger) nannten, sein großes Ziel endlich erreicht: Maschinenbauingenieur. Und drei Jahre später Oberingenieur. Vielleicht hatte er gehofft, alles würde sich jetzt zum Besseren wenden, aber in seinem Leben hatte sich schon zu viel Falsches angestaut und war zu einem immer enger werdenden Gefängnis geworden. Er selbst verbreitete nun eine Aura, die anderen Menschen die Luft zum Atmen nahm. Bald kam nur noch Omas Schwester Anni zu Besuch, um die Herrenzimmercouch durchzusitzen. Es wurde zu Großvaters Altersziel, seinem großen Vorbild Konrad Adenauer zu folgen und
niemals
in Rente zu gehen, als ewiger Ingenieur in die Geschichte der Zinnwerke und die Geschichte der gesamten Ingenieurszunft einzugehen. Vielleicht hätte er das sogar geschafft, wenn der neuen Geschäftsführung Opas Verdienste um die Firma nicht reichlich egal gewesen wären. Kurz vor seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag zwangen sie ihn in den Ruhestand, eine Demütigung, von der er sich nicht mehr erholte.
    Er schaute mich an und streichelte über meine Hand. «Ach, Markus, mein lieber Junge.

Weitere Kostenlose Bücher