Die Zunge Europas
Du guter Junge du.»
«Keine Angst, Opa.»
«Ich weiß es gar nicht.»
«Ja, natürlich, keine Angst.»
Aus der Küche drang fröhliches Geschnatter. Die beiden Frauen benahmen sich trotz des Altersunterschiedes wie Freundinnen, was ich irgendwie peinlich fand. Hoffentlich hatte Oma Preiselbeertorte gebacken, das Flaggschiff unter den Sommertorten, wunderbar erfrischende, säuerliche Preiselbeertorte, genau das Richtige bei der Hitze. Oft sagt man fahrlässig dahin, diese oder jene Spezialität bekomme niemand so hin wie dieser oder jener. Aber im Fall von Großmutters Preiselbeertorte ist es tatsächlich so: Wenn jemals etwas unwiderstehlich geschmeckt hat, dann ihre nach einem jahrtausendealten Geheimrezept handgeknetete Festtagstorte. Unten mürb, oben kross, in der Mitte sämig. Oma ist eine Meisterin des Mürbeteigs, kein Mensch auf der ganzen Welt bekommt den hauchdünnen Teig so hauchdünn und mürbe hin wie sie. Über dem Mürbeteig eine luftige Schicht aus Nüssen, gefolgt von einem Zwischenteig, dann Matschepatsche und obendrauf die von einer braunroten, lauwarmen Paste
umspielten
handgepulten Preiselbeeren. Sonja balancierte ein Tablett mit der Torte, Windbeuteln und klebrigem Bienenstich, den bei der Hitze (außer den Wespen) sowieso niemand anrühren würde, gefolgt von Oma mit frisch gemahlenem, handgebrühtem Bohnenkaffee, den sie in einer weißen Porzellankanne mit blauen Windmühlenmotiven servierte. Opa rührte die Preiselbeertorte nicht an und verputzte dafür in einem Affenzahn alle vier Windbeutel quasi auf einen Schlag. Immer wieder phänomenal, was in den alten Körperalles hineinging. Nachdem er den letzten Beutel reingedrückt hatte, war er ganz zugekleistert mit Schlagsahne und Kirschmarmelade. Er lehnte sich erschöpft zurück und wartete, dass Oma mit einem feuchten Tuch über ihn drüberging. Oma und Sonja schnatterten langweiliges Zeug, und Opas Lider waren bereits halb geschlossen. Er dachte sicher an etwas Schönes, wahrscheinlich Krieg. Zeit, dass der Geburtstag ausklang. Ich deckte extra laut und ungeschickt den Tisch ab, und nachdem ich fertig war, wurde ich ekelhaft ungemütlich:
«Entschuldigung, aber ich würd ganz gerne mal los. Ich muss noch was machen.»
«Och, jetzt schon, Markus?»
«Nicht
och, jetzt schon!
Weder
endlich seid ihr da
noch
och, jetzt schon wieder los.
Wir könnten bis Mitternacht hier hocken, und du würdest
och, jetzt schon
sagen.»
«Nun übertreib doch nicht so. Ich dachte, ihr bleibt wenigstens bis sieben.»
«Wieso, guckst du etwa auf die Uhr? Es geht doch nicht um die Zeit, die man da ist, sondern darum, ob die Zeit erfüllt ist.»
«Na ja, wenn ihr losmüsst, müsst ihr los.»
«Wir sind ja schließlich auch berufstätig.»
Sonja schaute mich spöttisch an. Dumme Trine, halt bloß dein Maul.
«Woran arbeitest du eigentlich gerade?»
Das hatte ich gern. Den ganzen Nachmittag hatte sich Oma nicht für mich interessiert, und jetzt verzögerte sie den Aufbruch durch Fangfragen.
«Wenn du damit ein bisschen früher gekommen wärst!Jetzt hier zwischen Tür und Angel ist es ein bisschen spät, findest du nicht?»
Fragen immer mit Gegenfragen beantworten, das hatte ich von Opa, und der hatte das aus der schlechten Zeit.
«Na ja, dann kommt mal gut nach Hause. Komm doch auch bald mal wieder mit, Sonja.»
«Tschüüs, Oma.»
Ich ging noch einmal auf die Terrasse zurück und drückte Opa die Hand.
«Tschüs, mein Lieber. Bis Sonntag. Und iss mal heute lieber nichts mehr, sonst wird dir noch schlecht.»
So ein Quatsch. Opa wurde niemals schlecht.
«Vielen Dank für euren Besuch. Komm gut hin und komm gut wieder.»
«Ja logisch, versprochen.»
«Komm mal her, mein Junge.»
Er griff mein Handgelenk und zog mich zu sich herunter. Ich gab ihm ein Küsschen, und fast war es wie früher an den Sonntagvormittagen. So schließt sich der Kreis, dachte ich, und manchmal, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet, kommt man am Ende doch noch ins Reine. Nur darum geht es, wiedergutmachen lässt sich eh nichts.
«Tschüüs, Opa.»
«Auf Wiedersehen, mein Junge.»
Er winkte mir matt hinterher.
Sonja hatte sich schon verabschiedet und wartete an der Gartenpforte. Ich gab Oma ein Küsschen.
«Also tschüs dann.»
«Hast du eigentlich schlechte Laune?»
«Nein, was soll das denn? Ich muss jetzt echt los.»
«Das war eben nicht so gemeint. Ich dachte doch nur, dass ihr heute ausnahmsweise ein bisschen länger bleibt und mich mit Opa nicht gleich
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