Die Zunge Europas
kontaminiert mit den Sporen der Langeweile. Woanders, davon war ich felsenfest überzeugt, hätten sich alle prächtig amüsiert, und vielleicht hätte Heiko Dengler Petra Joch aus Mitleid sogar durchgekitzelt. Gegen fünf erreichte die «Feier» ihren absoluten Tiefpunkt. Minus 273 Grad, der absolute Nullpunkt,die Temperatur, bei der Stoffe und Menschen keine Wärmeenergie mehr besitzen. Volker Schmidthals stand mit einem Mal wortlos auf, um meine Büchersammlung zu begutachten.
Fünf Freunde. Tim und Struppi. Wissen kompakt. Die Bibel. Asterix und Obelix. Diercke Weltatlas.
Langweiliger ging es nicht mehr. Als Nächstes kamen die Platten dran. Jedes verdammte Cover klappte er auf, studierte die Songtexte und hielt die Vinylplatten gegens Licht, um Zahl und Tiefe der Kratzer zu begutachten. Was für ein öder Typ. Dass ich während der Schmidthal’schen Kontrolle vor Angst halbtot und der Ohmacht nahe war, hatte allerdings einen Grund. Und dann passierte auch schon, was unter gar keinen Umständen hätte passieren dürfen: Aus dem Erfolgsalbum
Breakfast in America
(Supertramp) fielen
Ausschnitte
heraus. Viele Ausschnitte, einschlägige Ausschnitte: Immer wenn wir bei Onkel Friedrich eingeladen waren, hatte ich die Gelegenheit genutzt, seine abgelegten «Playboy»-Hefte nach Wichsvorlagen zu durchforsten. Ich riss die geilsten Seiten heraus und versteckte sie zu Hause in den Plattencovern, da ich sicher war, dass die Erwachsenen dort nie nachgucken würden. Scheißerwachsene. Volker hatte voll ins Schwarze getroffen. Schlagartig änderte sich die Stimmung. Endlich war was los! Volker durchforstete systematisch die gesamte Plattensammlung. Yes! Deep Purple! Madonna! Depeche Mode! Prefab Sprout! Pink Floyd! Roxy Music! Pet Shop Boys! Jeder Schuss ein Treffer, immer neue Schweinefotos purzelten ihm entgegen. Nachdem Volker die Ausschnitte einer Vorselektion unterzogen hatte, legte er sie zur freien Ansicht auf den Tisch und schob sie nach einem nicht nachvollziehbaren Prinzip («Und das kommt da noch hin») so langehin und her, bis er endlich zufrieden war. Dann murmelte er in einem ganz ekelhaften Tonfall: «Ach guck mal, Tiger, das ist ja interessant.» Ausgerechnet Tiger. Zuerst hatten die Mädchen verstohlen weggeguckt, doch bald waren die Hemmungen verflogen: Sie steckten ihre Köpfe zusammen, flüsterten leise und warfen mir unverschämte bis angeekelte Blicke zu. Sie wollten gar nicht glauben, dass ich die Ausschnitte dafür benutzte, woran alle dachten. Natürlich hobelten alle Jungen, mit oder ohne Vorlage, wie die Weltmeister, aber offiziell herrschte strengstes Wichsverbot. Wer als Melker enttarnt war, hatte nichts zu lachen, und wenn man jemanden so richtig in die Pfanne hauen wollte, verbreitete man das Gerücht über ihn, er tue
es
. Sabine Freudenthal schaute mich an. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, fragte sie sich gerade, wie oft ich es tat. Das hätte ich wahrheitsgetreu und wie aus der Pistole geschossen beantworten können: Vor der Schule. Nach der Schule. Vor dem Essen. Nach dem Essen. Vor dem Schlafengehen. Nach dem Schlafengehen. Usw. Als sich endlich alle sattgesehen hatten, löste Volker die Runde mit den Worten «So, Tiger, dann viel Spaß noch» auf. Und alle ab nach Hause, einen runterholen. Die Ausschnitte waren nämlich wirklich geil. Vielleicht durfte Volker zur Belohnung Sabine Freudenthal hinter dem Fahrradschuppen noch schnell durchnehmen (für Blasen oder Lecken oder so waren wir ja noch zu jung).
Als ich am nächsten Tag in der großen Pause beim Bäcker anstand, um mir das obligatorische Negerkussbrötchen zu kaufen, tippte mir Maik Bohnsack von hinten an die Schulter.
«Du bist vielleicht ’ne Sau. Jetzt bist du dran.»
«Wie, was? Wieso bin ich dran? Versteh ich nicht.»
«Du weißt schon, was ich mein. Mongo. Pass auf, was demnächst passiert.»
«Wieso bin ich dran? Was meinst du denn?»
Es hatte sich noch schneller rumgesprochen, als ich für möglich gehalten hätte. Maik schaute mich verächtlich an.
«Ist noch irgendwas?»
«Nein, nein.»
«Dann ist ja gut.»
Und weg war er. Die nächsten beiden Wochen verstrichen ohne besondere Vorkommnisse. Er wollte meine Angst maximal steigern, ich sollte nicht wissen, wann und wo und vor allem wie er zuschlagen würde. Maik hatte weder Hobbys noch Interessen oder Neigungen, seine einzige Freude bestand darin, andere Lebewesen zu quälen. Schon als Kind hatte er ganze Nachmittage damit verbracht, Schuster,
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