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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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normalerweise in Ruhe gelassen, aber aus irgendwelchen Gründen löste Kai kein Mitgefühl aus, sondern Aggression und Vernichtungswillen. Vor der ersten Turnstunde zogen ihm die Jungen im Umkleideraum die Unterhose herunter, um aber gleich vor seinem Genital zurückzuschrecken. So was hatten sie auch noch nicht gesehen: Das
Teil
bestand quasi nur aus Sack. Riesig, prall und puterrot, als hätte man ihn gerade in kochendes Wasser gehalten. Die Jungs stießen ihn ohne Buxe in die Turnhalle und hielten von innen die Tür zu. Die gröbere Hälfte der Mädchen amüsierte sich, die zarter Besaiteten dagegen fragten sich wahrscheinlich, ob das bei allen Jungen so abartig aussah, und flüchteten in die Umkleide. Kai versteckte sich im Geräteraum, wurde aber von Gunter Dausel hervorgezerrt und so lange mit Arschtritten durch die Halle gejagt, bis der wie immer verspätete Lehrer dem bösen Spiel ein Ende setzte. Auf Kai schien ein Fluch zu liegen. Er war kein normaler Aussätziger, sondern ein unheimlicher Brunnenvergifter, den es unbedingt loszuwerden galt, bevor er die gesamte Klasse ausgelöscht hatte.Sie zerbrachen seine Stifte, fraßen ihm das Pausenbrot weg, bemalten seine Wulstlippen mit Filzschreibern und zogen ihn regelmäßig splitterfasernackt aus. Hofften sie, er würde aufgeben, sich vielleicht was antun oder wenigstens die Schule wechseln? Doch Kai hatte sich schon so weit von allem entfernt, dass es ihm ein krankes Vergnügen bereitete, sich quälen zu lassen. Er stachelte seine Klassenkameraden durch sein Verhalten an, es war wie eine flehende Bitte ums Ende. Anders ist es nicht zu erklären, dass er damit zu prahlen begann, er würde es sich besorgen. Ausführlich und ohne die geringste Scham berichtete er von seinen Exzessen und löste damit bei den anderen Jungen eine Mischung aus Abscheu und Faszination aus. Endlich traut sich mal jemand, es auszusprechen. Aber ausgerechnet Kai! Unvorstellbar, was er mit seinem knallroten Geschwür alles anstellte. Sie weideten sich an seinen geilen Schwänken und glaubten ihm jedes Wort. Denn wenn einer keinen Grund mehr hatte zu lügen, dann Kai Behrendt.
    Es dauerte nicht lange, bis Maik Bohnsack Wind von der Sache bekam und Kai zu meinem offiziellen Nachfolger kürte. In nur zwei Wochen schaffte er, was die anderen in einem halben Jahr nicht geschafft hatten: Kai mag nicht mehr, er kann nicht mehr, er will nicht mehr. Doch wie soll er es anstellen? Einmal legt er sich auf die Schienen, doch als die Geleise vom heranbrausenden Zug zu zittern beginnen, verlässt ihn der Mut, und er läuft davon. Vom Hochhaus springen bringt er auch nicht wg. Höhenangst, und an eine Pistole kommt er nicht ran. Maik Bohnsack der Erste sieht im Fernsehen eine Reportage über den Volkssportder Iren, die sich Frettchen in die Hosenbeine stopfen und dann zubinden. Die Frettchen geraten in Panik und beißen zu, gewonnen hat, wer am längsten aushält. Toll, Spitzenidee, das muss er unbedingt ausprobieren, sofort. Anstelle Frettchen benutzt er Ratten. Er stellt sich alles so schön vor: wie Kai in Todesangst und Schmerzen herumhüpft wie ein Brummkreisel, während ihm die Viecher die Luft aus dem prallen Sack lassen. Doch Kai tut ihm den Gefallen nicht: Er bricht zusammen und bleibt bewusstlos liegen (Schock). Scheiße, Scheiße, Scheiße! Maik schüttet ihm Cola ins Gesicht, haut ihm eine rein, nichts. Die einzige Möglichkeit, ungeschoren aus der Sache rauszukommen, wäre, ihn umzubringen, doch das packt er dann doch nicht, und so haut er ab und hofft, dass Kai gleich aufwacht und wie immer nach Hause geht, als wäre nichts geschehen. Doch Kai wird erst am späten Abend zufällig vom Hausmeister gefunden, da ist er schon halb tot und drei viertel erfroren. Maik wandert in den Jugendknast, und Kai wechselt die Schule. Was wohl aus ihnen geworden ist? Meine Güte, Sabine Freudenthal, Volker Schmidthals, Maik Bohnsack, Kai Behrendt, Gespenster aus der Vergangenheit.
     
    Zum Glück klingelte das Telefon. Vielleicht hielt der Tag doch noch eine erfreuliche Überraschung für mich bereit.
    «Baron von Nuttentümpel.»
    «Ich bin’s.»
    «Ich bin’s, ich bin’s, wer ist ich? Manchmal erkennt man die Stimme nicht, und dann wird’s schnell peinlich.»
    «Das ist mir gerade egal, wir müssen uns unbedingt treffen.»
    «Wie! Heute?»
    «Ja.»
    «Um was geht’s denn überhaupt?»
    «Das kann ich am Telefon nicht sagen.»
    «Das ist ja wohl das Allerletzte, erst die Leute verrückt machen und dann

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