Die Zunge Europas
nur noch ein Close-up der Sofalehne im Bild. Aha. Kamera umgekippt. Und? Das konnte doch unmöglich alles gewesen sein. Hatte ich wirklich so schlampig gearbeitet? Das war doch gar nicht meine Art. Vorspulen. Play. Gestochen scharfes Bild, auch die Tonspur hatte sich auf wundersame Weise erholt. «Sau», «Nutte», alberne Bumsbefehle. Plötzlich: «Fiffi.» Hatte sie mich wirklich Fiffi genannt? «Bist ja schon ganz aufgeregt. Böser Fiffi.» Schrecklich. Es gibt Menschen, die sind für den Geschlechtsverkehr einfach nicht gemacht. Ich schmiss die Kassette in den Müll. Braver Fiffi, böser Fiffi, meine Güte.
Mir kam es vor, als hätte ich ewig kein Fernsehen mehr geguckt. War eigentlich mal wieder eine neue «Big-Brother»-Staffel im Anmarsch? Die beiden einzigen Fremdwörter, die die Insassen beherrschen, sind «nominieren» und «im Endeffekt» . (unsportlich, sich über das «Big-Brother»-Personal lustig zu machen). Auf VOX lief eine Dokumentation über eine ehemalige Kiezgröße, die sich das Leben genommenhatte. Der Starlude hatte nach den goldenen Zeiten in den Siebzigern und Achtzigern den Anschluss verpasst und musste zum Schluss als Altenpfleger arbeiten. O-Ton : «Ich will selber bestimmen, wann ich abtrete. Wie Inge Meysel bis zum Schluss an ihrem bisschen Scheißleben gehangen hat, festgeklammert wie ein Hund am abgenagten Knochen.» Da hatte er leider recht. Wenige Wochen nach dem Interview hatte er sich im Boxraum der «Ritze» aufgehängt.
RTL:
Unsere erste gemeinsame Wohnung:
Der junge Mann sammelt Star-Wars-Figuren, die Frau besitzt sogar zwei Sammlungen, eine mit Bärchen, die andere mit Elefanten. Der Mann hat für das Schlafzimmerfenster einen Kronkorken-Bierdeckelvorhang aus Hunderten von Bier- und Brausedeckeln, Wein- und Sektkorken gebastelt.
Im Teaser für eine neue Schuldenberatungsshow fällt ein sehr guter Satz: «Ratenzahlung bedeutet ja nun nicht, dass ich rate, wann Sie zahlen.» Echt gut. n-tv: Der Reporter steht vor der Zentrale eines
Versorgers
und berichtet über dramatisch gestiegene Energiekosten. In zweiter Reihe hält ein Demonstrant ein Plakat hoch. Aufschrift: «Das Internet birgt Gefahr.» Etwas allgemein gehalten, im Kern aber richtig. RTL Punkt zwölf. Familienzwist. Der etwa zehnjährige Sohn möchte für sein Leben gern in einen Eishockeyverein eintreten, der Vater ist dagegen. Angeblich zu gefährlich. Dann bringt der Vater den schönen Satz: «Das einzig Gute am Eishockey ist, wenn nach dem Spiel in der Umkleide die Gebisse getauscht werden.» Ich wusste zwar nicht, was
genau
er damit sagen wollte, aber lustig war’s ja wohl auf jeden Fall. Man muss auch nicht allesverstehen. Prominews. Irgendein neuer CS U-Skandal , Weiber mal Promille. Erdbeben. Hitzewelle. Quallenplage auf Mallorca.
Irgendwie war ich nicht in Fernsehlaune. In Arbeitslaune auch nicht. Unterlagen gab es keine zu ordnen, und beim Sport soll man immer einen Tag aussetzen. Was im Keller wohl sonst an verborgenen Schätzen lagerte? Die süße Melancholie des gestrigen Abends wirkte immer noch nach. Dann war heute eben der Tag der Erinnerungen. Erinnerungen auffrischen. Nach Erinnerungen graben. Mich
kontextualisieren.
Woher ich komme, wohin ich gehe, Zukunftsblick. Ich holte aus dem Keller den Karton, in dem ich Alben, Briefe, Fotos, Zeugnisse, Postkarten und Klöterkram (Schwimmpass, Ausweis vom evangelischen Kirchentag neunzehnhundertsowieso, Eintrittskarte fürs Pink-Floyd-Konzert, ebenfalls neunzehnhundertschießmichtot) aufbewahre. Es ist immer wieder erschreckend, an wie wenig ich mich erinnern kann. Das Gros der Jahre ist einfach so verstrichen.
Beispiel 1988: Komplett ausgelöscht, keine einzige konkrete, persönliche Erinnerung. In diesem gerade für Deutsche historisch bedeutsamen Jahr sind Franz Josef Strauß und Kurt Georg Kiesinger gestorben, Steffi Graf gewann zum ersten Mal Wimbledon, und Bundestagspräsident Philipp Jenninger trat zurück. Warum mir ausgerechnet dieses verhältnismäßig unwichtige Detail quasi exklusiv im Gedächtnis geblieben ist, war mir ebenso rätselhaft wie das ganze verhonkte Jahr. 1988, Jahr der Nebel. Irgendwas musste doch passiert sein, immerhin war «1988» ein ganzesFotoalbum gewidmet. Verbrannte Erde. Eine Reise ins Niemandsland. Spannend. Als ich das Album aufschlug, fiel mir ein zerfleddertes Foto von Sabine Freudenthal entgegen. In Sabine war ich Ewigkeiten verliebt gewesen, mindestens aber drei Jahre, heimlich natürlich. Sie hatte davon
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