Die Zunge Europas
Asseln und überhaupt
alles
bei lebendigem Leib mit einem Brennglas zu verschmurgeln. Fliegen, Wespen und Libellen riss er Flügel und Beine heraus. Während sich bei normalen Menschen irgendwann am Ende der Pubertät die Nervenbahnen für Mitleid bilden, waren die bei Maik zu einem unentwirrbaren Strang zusammengepappt. Seine Eltern schienen nicht zu merken, was für einen Teufel sie großzogen, denn sie schenkten dem schon mit dreizehn Jahren fast achtzig Kilo schweren Foltermeister zum Geburtstag auch noch ein Luftgewehr. Jetzt ging die Party richtig los: Maik ballerte ab, was ihm vors Visier kam, bevorzugt Singvögel, die verdammten Plärrviecher,und abends mit Beleuchtung. Nachdem ihm das zu langweilig geworden war, begann er, seine Neigungen an höheren Wirbeltieren auszuleben. Und prügelte sich, um seine Hemm- und Schmerzschwelle herabzusetzen, mit größeren und kräftigeren Jungen, die seiner Entschlossenheit und Brutalität aber meist auch nichts entgegenzusetzen hatten.
Dann wurde es Zeit, sich ein erstes Langzeitopfer zu organisieren, und am 21. Oktober 1986 war es so weit:
Maik Bohnsack der Erste
zelebrierte an mir ein Strafgericht allererster Kajüte: Er eröffnete seine Studien mit bewährten Standards (Kopfnüsse, Monkeys, Ohrfeigen, Muskelreiten und Pferdeküsse – Kinderfolter Bambino), begleitet von kurzen Aufwärtshaken in die Magengrube, eine Technik, die immer dann zur Anwendung gelangte, wenn ich gerade mein Pausenbrot verputzt hatte. Neugierig wartete Maik, bis ich mich übergeben musste. Falls ein Schlag nicht punktgenau gesessen hatte, schlug er erneut zu, doch das war meist nicht nötig, ich kotzte wie gewünscht. Maiks Kreativität beim Ersinnen neuer Methoden kannte keine Grenzen. Einmal drohte er, mir ohne Betäubung die Zähne zu ziehen, wie er es im Thriller
Der Marathonmann
gesehen hatte, aber das setzte er doch nicht in die Tat um, wohl weil dann alles rausgekommen wäre. Die Ankündigung hatte auch gereicht. Professionelle Folter zeichnet sich dadurch aus, dass man dem Opfer nichts ansieht: Es windet sich unter schlimmsten Qualen, wirkt jedoch wie frisch geduscht. Als Nächstes verbot mir der Meister unter Androhung härtester Strafen («Ich mach dich ganz kaputt») Essen oder Trinken. «Ich warndich, wenn ich dich auch nur einen Schluck trinken sehe, dann bist du endgültig dran, das glaub mir.» Ich glaubte ihm und schloss daheim die Vorhänge, aus Angst, das Monstrum könnte sich im Garten auf die Lauer legen. Dann führte Maik eine neue Technik ein, die sich schon bald zu seiner Königsdisziplin entwickeln sollte:
Stauchen
. Ich hatte mich fortan zu Beginn jeder großen Pause unaufgefordert am Eingang des Kreuzbaus einzufinden, wo er mir sogleich einen Arm um die Schultern legte. Es folgte ein zwanzigminütiger
Spaziergang
übers Schulgelände. Der Trick war, dass Maik mich immer tiefer herunterdrückte, bis ich am Ende gekrümmt in der Hocke neben meinem Herrn herwatschelte. Das klingt jetzt vielleicht gar nicht so schlimm, aber kanns ja ma ausprobieren, solls ma sehen. «Bald hab ich dich so weit, dann bist du ganz gestaucht», pflegte Maik zu sagen, und nach ein paar Wochen Drill hatte er mich so weit, dass ich bereits in die Hocke ging, wenn ich ihn nur von weitem kommen sah. Maik hätte alles mit mir machen können, doch von einem Tag auf den anderen ließ er völlig überraschend von mir ab und wandte sich der nächsten Feldstudie zu: Kai Behrendt, der erst vor wenigen Wochen mit seiner Mutter in unsere Gegend gezogen und in meine Parallelklasse gekommen war.
Kai gehörte zu den hoffnungslosen Fällen, bei denen alles, aber wirklich alles zusammenkam: Aufgrund einer seltenen Stoffwechselstörung hatte er böse Wassereinlagerungen in den Beinen, was deshalb besonders schlimm aussah, weil er ansonsten abgemagert war wie ein afrikanisches Hungerkind. Der längliche Totenschädel mit dentief in den Höhlen liegenden, ausdruckslosen Augen und den wulstigen Blumenkohllippen verliehen ihm ein grotesk negroides Aussehen, er sah aus wie eine Mutation, der missglückte Versuch einer Kreuzung, als habe ein Biologiestudent aus unzureichendem genetischem Material einen weißen Neger züchten wollen. Deshalb sein Spitzname: «Biafra». Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, litt er an Schuppenflechte. In einem fort rieselten griesiges Gestöber und münzgroße Placken von seinem windschiefen, papierdünnen Körper. Von einem solchen Schicksal geschlagene Jungs werden
Weitere Kostenlose Bücher