Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
Vom Netzwerk:
dich.
    Am Tag nach der Tragödie bist du wieder in Schweigen versunken und wolltest nicht mehr sprechen.
    Nachdem sich meine Schwester und mein Schwager einen Monat später überzeugt hatten, dass in Istanbul wieder Ruhe eingekehrt war, bin ich mit dir zu dem Apotheker in die Istiklal-Straße gegangen. Beim Anblick seiner Frau hast du wieder gelächelt und dich in ihre Arme geworfen. Ich erzählte ihnen, was geschehen war.
    Du musst mich verstehen, Anouche, ich stand vor einer furchtbaren Entscheidung und hatte nur das Ziel, dich zu schützen.
    Die Frau des Apothekers hegte eine große Zuneigung für dich, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Nur bei ihr warst du bereit, ein wenig zu sprechen. Von Zeit zu Zeit kam sie zu uns, wenn ich im Taksim-Garten mit dir spazieren ging. Sie ließ dich an Blättern, an Gräsern und Blumen riechen und brachte dir die Namen bei – mit ihr lebtest du wieder auf. Als ich eines Abends deine Medikamente abholte, teilte mir der Apotheker mit, sie würden bald in ihre Heimat zurückkehren, und er schlug vor, dich mitzunehmen. Er versicherte mir, in England hättest du nie mehr etwas zu befürchten, und seine Frau und er würden dir jenes Leben bieten, dass sie sich für das Kind gewünscht hatten, welches sie nie haben konnten. Sie versprachen mir, bei ihnen wärst du keine Waise mehr, und es würde dir an nichts mangeln, weder an Zärtlichkeit noch an Liebe.
    Es hat mir das Herz gebrochen, dich gehen zu lassen, aber ich war nur deine Kinderfrau. Meine Schwester konnte uns nicht länger bei sich behalten, und ich hatte nicht die Mittel, euch beide großzuziehen. Du warst die Empfindsamere und er zu klein für eine solche Reise, und so beschloss ich, dich, mein Liebes, auf diese Weise zu retten.«
    Lieber Daldry, das ist das Ende ihres Berichts. Ich glaubte, all meine Tränen vergossen zu haben, aber ich versichere Ihnen, dass mir noch welche blieben.
    Ich fragte Misses Yilmaz, warum sie immer von »ihr« sprach und wen sie meinte, als sie sagte, von beiden sei ich die Empfindsamere gewesen.
    Da hat sie mein Gesicht in ihre Hände genommen und mich erneut um Verzeihung gebeten. Um Verzeihung, weil sie mich von meinem Bruder getrennt hatte.
    Fünf Jahre, nachdem ich mit meiner neuen Familie nach England gekommen war, hat die Armee unseres Königs in dem besiegten Reich Izmit besetzt – welche Ironie des Schicksals, nicht wahr?
    Als im Laufe des Jahres 1923 die Revolution schwelte, verlor der Schwager von Misses Yilmaz zunächst seine Privilegien und kurz darauf sein Leben.
    Ihre Schwester floh wie so viele andere aus dem besiegten Reich, als die neue Republik entstand. Sie wanderte nach England aus und ließ sich – ihr einziges Vermögen war etwas Schmuck – an der Küste in der Nähe von Brighton nieder.
    Die Wahrsagerin hatte in allen Punkten recht. Ich bin wirklich in Istanbul geboren und nicht in Holborn. Ich habe eine nach der anderen die Personen getroffen, die mich zu dem Mann führen sollten, der am meisten in meinem Leben zählen würde.
    Jetzt, nachdem ich weiß, dass es ihn gibt, will ich mich auf die Suche nach ihm machen.
    Irgendwo habe ich einen Bruder, der Rafael heißt.
    Ich umarme Sie.
    Alice
    Alice verbrachte den ganzen Tag bei Misses Yilmaz.
    Sie half ihr die Treppe herunter, und nachdem sie gemeinsam mit ihrem Neffen und Can in der Laube zu Mittag gegessen hatten, nahmen die beiden Frauen unter der Linde Platz.
    An diesem Nachmittag erzählte Misses Yilmaz ihr Geschichten aus einer vergangenen Zeit, zu der ihr Vater noch Schuhmacher in Istanbul gewesen war und ihre Mutter eine glückliche Frau mit zwei hübschen Kindern.
    Als sie sich verabschiedeten, versprach Alice ihr, sie von jetzt ab häufig zu besuchen.
    Sie bat Can, über das Meer nach Hause zurückzukehren, und als das Schiff, das sie nach Istanbul brachte, anlegte, betrachtete sie all die Yalis am Ufer und spürte Rührung in sich aufsteigen.
    Noch in derselben Nacht ging sie zum Postkasten, um den Brief an Daldry einzuwerfen. Er erhielt ihn eine Woche später und gestand Alice, dass auch er beim Lesen geweint habe.

Kapitel 14
    Zurück in Istanbul, war Alice ganz von der Idee beherrscht, ihren Bruder zu finden. Misses Yilmaz hatte ihr erzählt, er sei an seinem siebzehnten Geburtstag aufgebrochen, um sein Glück in Istanbul zu versuchen. Einmal im Jahr besuchte er sie, und von Zeit zu Zeit schrieb er ihr eine Postkarte. Er war Fischer geworden und verbrachte den größten Teil seines Lebens an Bord der

Weitere Kostenlose Bücher