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Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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Bewegung umstürzen. Die Latten an der Fassade wurden nur noch von einigen verrosteten Nägeln gehalten, und die vom Salz und den zahlreichen Wintern morschen Fenster klammerten sich mühsam an die Rahmen. Alice klopfte an die Tür des verfallenen Gebäudes. Als ein Mann, den sie für den Sohn von Misses Yilmaz hielt, sie ins Wohnzimmer führte, schlug ihr eine Vielzahl von Gerüchen entgegen: der Harzgeruch des im Kamin qualmenden Holzes, der von den alten Büchern ausgehende Geruch nach gestockter Milch, der des Teppichs nach trockener Erde und der der alten Lederstiefel, die noch nach Regen rochen.
    »Sie ist oben«, sagte der Mann und deutete auf die Treppe. »Ich habe ihr noch nichts gesagt, nur dass sie Besuch bekommen würde.«
    Als Alice die wacklige Stiege hinaufging, spürte sie den Lavendelduft der Decken, den nach Leinöl, der von dem Geländer aufstieg, den der gestärkten Laken, die nach Mehl rochen, und im Zimmer von Misses Yilmaz den nach Mottenkugeln, der Einsamkeit verhieß.
    Misses Yilmaz saß auf ihrem Bett und las. Sie schob die Brille auf die Nasenspitze und sah auf zu den beiden Besuchern, die an die Tür geklopft hatten.
    Sie betrachtete Alice, die näher trat, hielt den Atem an und stieß dann einen tiefen Seufzer aus, während sich ihre Augen mit Tränen füllten.
    Alice sah auf dem Bett nur eine alte Frau, die ihr fremd war, bis zu dem Augenblick, da Misses Yilmaz sie schluchzend in die Arme schloss und an sich zog …
    … Meine Nase an ihren Nacken gedrückt, fand ich meine Kindheit wieder und erkannte die Düfte der Küsse, die ich bekommen hatte, ehe ich zu Bett ging. Und plötzlich tauchte auch das Rascheln der Vorhänge auf, die morgens geöffnet wurden, und die Stimme meiner Kinderfrau, die rief: »Anouche, steh auf, am Kai liegt ein hübsches Schiff, das musst du dir ansehen.«
    Ich fand den Geruch nach warmer Milch wieder, der die Küche erfüllte, sah die Beine des Tischs aus Kirschbaumholz, unter dem ich mich gern versteckte. Ich hörte das Knarren der Treppe unter dem Schritt meines Vaters, sah plötzlich auf einer schwarzen Tuschezeichnung zwei Gesichter, die ich vergessen hatte.
    Ich habe zwei Väter und zwei Mütter gehabt, Daldry, und nun habe ich gar keine Eltern mehr.
    Es dauerte eine Weile, bis Misses Yilmaz ihre Tränen getrocknet hatte. Sie streichelte meine Wangen und bedeckte mich mit Küssen. Immer wieder murmelte sie meinen Vornamen: »Anouche, Anouche, meine kleine Anouche, mein Sonnenschein, du bist deine alte Kinderfrau besuchen gekommen.« Und dann habe auch ich geweint, Daldry, ich habe meine Unwissenheit beweint und die Erkenntnis, dass die, die mich zur Welt gebracht haben, mich nicht haben aufwachsen sehen, und dass die, die mich geliebt und aufgezogen haben, mich adoptiert hatten, um mich zu retten. Mein Vorname ist nicht Alice, sondern Anouche, und ehe ich Engländerin wurde, war ich Armenierin, und mein richtiger Nachname ist auch nicht Pendelbury.
    Mit fünf Jahren war ich ein schweigsames Kind, ein kleines Mädchen, das nicht sprechen wollte, ohne dass man gewusst hätte, warum. Meine Welt bestand nur aus Gerüchen, sie waren meine Form der Kommunikation. Mein Vater war Schuhmacher und besaß eine Werkstatt und zwei große Geschäfte auf beiden Seiten des Bosporus. Er war, wie mir Misses Yilmaz versicherte, der bekannteste von Istanbul, und man kam aus allen Vororten der Stadt zu ihm. Mein Vater kümmerte sich um das Geschäft in Pera, meine Mutter um das in Kadiköy, und jeden Morgen brachte mich Misses Yilmaz zur Schule, die in einer kleinen Gasse in Üsküdar lag. Meine Eltern arbeiteten viel, aber sonntags fuhr uns mein Vater immer in einer Kalesche spazieren.
    Anfang 1914 erklärte ein weiterer Arzt, den meine Eltern aufgesucht hatten, meine Stummheit sei nicht unabänderlich, und es gebe Arzneimittelpflanzen, die meine unruhigen, von heftigen Albträumen heimgesuchten Nächte beruhigen und durch den wiedergefundenen Schlaf auch meine Zunge lösen könnten. Zum Kundenkreis meines Vaters gehörte ein junger englischer Apotheker, der Familien in Schwierigkeiten half. Jede Woche begaben Misses Yilmaz und ich uns in die Istiklal-Straße.
    Und es war offensichtlich so, dass ich mit klarer Stimme den Namen seiner Frau rief, sobald ich sie sah.
    Die Mittel von Mister Pendelbury bewirkten Wunder. Nach sechsmonatiger Behandlung schlief ich wie ein Engel und fand von Tag zu Tag mehr Freude an der Sprache. Und so führten wir ein glückliches Leben, bis zum

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