Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
Vom Netzwerk:
fühlte, gingen wir mit dir auf den Feldern spazieren und pflückten Sträuße von Rosen und Jasmin. Unterwegs beschriebst du uns alle Düfte, die du wahrnahmst.
    Wir glaubten nun, in Frieden zu leben und dass der Horror, der Istanbul heimgesucht hatte, auf eine Nacht beschränkt sei. Doch wir hatten uns geirrt. Der Hass erfasste das ganze Land. Im Juni kam mein kleiner Neffe außer Atem angerannt und schrie, im unteren Teil der Stadt würde man die Armenier verhaften. Man würde sie in der Nähe des Bahnhofs zusammentreiben und brutaler in Viehwagen stoßen als Tiere, die man zum Schlachthof bringt.
    Ich hatte eine Schwester, die in einem großen Haus am Bosporus lebte, dieses dumme Ding war so hübsch, dass sie sich einen reichen Beamten geangelt hatte, einen Mann, der viel zu mächtig war, als dass man gewagt hätte, ohne Einladung in sein Haus einzudringen. Die beiden hatten ein Herz aus Gold und hätten nie zugelassen, dass irgendjemand, aus welchem Grund auch immer, einer Frau und ihren Kindern ein Haar krümmt. Wir haben einen Familienrat einberufen und beschlossen, dass ich euch bei Einbruch der Nacht zu ihnen führe. Um zehn Uhr abends – daran, meine kleine Anouche, erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen – haben wir den kleinen schwarzen Koffer genommen und sind im Schutz der Dunkelheit durch die Straßen von Izmit geschlichen. Oben von der Treppe aus, die sich am Ende unserer Straße befindet, sah man am Himmel Feuerschein. Die Häuser der Armenier in der Nähe des Hafens standen in Flammen. Wir liefen im Zickzack und entkamen mehrmals nur knapp den wilden Horden, die die armenische Gemeinschaft dezimierten. Wir versteckten uns in den Ruinen einer alten Kirche. Als wir naiverweise glaubten, das Schlimmste sei vorbei, verließen wir unseren Unterschlupf. Deine Mutter hielt dich an der Hand, und plötzlich haben sie uns gesehen.«
    Misses Yilmaz unterbrach sich und schluchzte, ich nahm sie in die Arme und versuchte, sie zu trösten. Sie zog ihr Taschentuch hervor, wischte sich das Gesicht ab und setzte stockend ihren Bericht fort.
    »Verzeih mir, Anouche, inzwischen sind so viele Jahre vergangen, aber ich kann noch immer nicht darüber sprechen, ohne zu weinen. Deine Mutter kniete vor dir nieder und sagte dir, du seist ihr ganzes Leben, ihr Schatz, und du müsstest um jeden Preis überleben. Und sie versicherte dir, was auch immer geschehen möge, sie würde stets über dich wachen und dich in ihrem Herzen tragen, egal, wo du sein mögest. Sie sagte, sie müsse jetzt gehen, aber sie würde dich nie verlassen. Dann hat sie deine Hand in die meine gelegt und uns in den Schatten eines Hoftors gestoßen. Sie hat uns umarmt und mich angefleht, euch zu beschützen. Anschließend ist sie allein durch die Nacht zu den Barbaren gelaufen – damit sie nicht zu uns kommen und euch nicht sehen.
    Als sie sie mitnahmen, führte ich euch über einen Pfad, den ich seit jeher kannte, den Hügel hinab. Unten erwartete uns in einer Bucht mein Cousin mit einem Fischerboot, das am Steg festgemacht war. Wir fuhren über das Meer und legten wieder an, ehe es Tag wurde. Wir mussten noch ein Stück bis zum Haus meiner Schwester laufen.«
    Ich habe Misses Yilmaz gefragt, was aus meiner Mutter geworden sei.
    »Wir haben nie etwas Genaues herausgefunden«, gab sie mir zur Antwort. »Aber allein in Izmit wurden viertausend Armenier deportiert, und im ganzen Reich wurden in diesem tragischen Sommer Hunderttausende ermordet. Heute spricht niemand mehr darüber, alle schweigen. Es haben nur so wenige überlebt, und noch weniger haben die Kraft gefunden, von den Ereignissen zu berichten. Doch man hat sie nicht hören wollen. Es bedarf großer Demut und viel Mutes, um Verzeihung zu bitten. Man hat von Umsiedelung gesprochen, aber glaub mir, es war etwas anderes. Ich habe gehört, dass kilometerlange Schlangen von Männern, Frauen und Kindern gen Süden durch das Land getrieben wurden. Diejenigen, die man nicht in die Viehwagen gepfercht hatte, liefen zu Fuß, ohne Wasser und Essen, an den Gleisen entlang. Wer nicht mehr weiterkonnte, wurde mit einem Kopfschuss im Graben niedergestreckt. Die anderen wurden in die Wüste geführt, wo man sie vor Erschöpfung, Hunger und Durst hat sterben lassen.
    Als ich diesen Sommer mit dir bei meiner Schwester verbrachte, wusste ich von alldem nichts, selbst wenn ich das Schlimmste befürchtete. Ich hatte deine Mutter gehen sehen und ahnte, dass sie nicht zurückkommen würde. Ich hatte Angst um

Weitere Kostenlose Bücher