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Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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25. April 1915.
    An diesem Tag wurden in Istanbul alle armenischen Beamten, Intellektuellen, Journalisten, Ärzte, Lehrer und Kaufleute bei einer blutigen Massenverhaftungsaktion festgenommen. Die meisten Männer wurden ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet, die anderen wurden nach Adana in Aleppo deportiert.
    Mein Vater wollte schnell zu uns kommen, traf auf dem Weg aber eine Patrouille.
    »Dein Vater war ein guter Mensch«, wiederholte mir Misses Yilmaz mehrmals. »Er lief durch die Nacht, um euch zu retten. In der Nähe des Hafens haben sie ihn erwischt. Dein Vater war auch unglaublich tapfer, denn als sie mit ihrem schmutzigen Geschäft fertig waren und ihn haben liegen lassen, weil sie ihn für tot hielten, hat er sich wieder aufgerappelt. Trotz seiner Verletzungen hat er einen Weg gefunden, um den Bosporus zu überqueren. Die Schlächter hatten Kadiköy noch nicht erreicht.
    Mitten in der Nacht sahen wir ihn blutüberströmt hereinkommen, sein Gesicht war geschwollen, und er war kaum mehr zu erkennen. Er ging in das Zimmer, in dem ihr schlieft, und flehte deine Mutter an, nicht zu weinen, um euch nicht zu wecken. Dann rief er uns ins Wohnzimmer und erklärte uns, was in der Stadt vor sich ging: die Morde, die brennenden Häuser, die Frauen, die man bedrängte. Das ganze Grauen, zu dem Menschen fähig sind, wenn sie ihre Menschlichkeit verlieren. Er sagte, wir müssten euch um jeden Preis schützen, die Stadt augenblicklich verlassen. Wir sollten den Wagen anspannen und aufs Land fliehen, wo es sicher ruhiger zuginge. Dein Vater bat mich inständig, euch in meiner Familie aufzunehmen, hier in diesem Haus in Izmit, wo du einige Monate verbracht hast. Und als deine Mutter ihn unter Tränen fragte, warum er uns offenbar nicht begleiten wolle, gab ihr dein Vater die folgende Antwort, an die ich mich genau erinnere: ›Ich setze mich kurz hin, aber nur, weil ich müde bin.‹
    Er besaß viel Stolz, jenen Stolz, der einen kerzengerade aufrecht hält, der einen verpflichtet, unter allen Umständen stark zu bleiben.
    Auf seinem Stuhl schloss er die Augen, deine Mutter kniete vor ihm und umarmte ihn. Dann legte er seine Hand auf ihre Wange und lächelte sie an. Sein Kopf glitt auf die Seite, er stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte dann nichts mehr. Dein Vater ist, wie er es entschieden hatte, mit einem Lächeln, den Blick auf deine Mutter gerichtet, gestorben.
    Ich erinnere mich, wenn deine Eltern sich stritten, sagte dein Vater zu mir: ›Wissen Sie, Frau Yilmaz, sie ist ärgerlich, weil wir zu viel arbeiten, aber wenn wir alt sind, kaufe ich ihr ein schönes Haus auf dem Land mit Feldern rund herum, und sie wird die glücklichste aller Frauen sein. Und wenn ich eines Tages in diesem Haus, der Frucht unserer Arbeit, sterben werde, dann sind es die Augen meiner Frau, die ich als Letztes sehen will.‹
    Wenn er mir das erzählte, sprach dein Vater sehr laut, damit deine Mutter ihn hörte. Die ließ eine Weile verstreichen, und wenn er seinen Mantel anzog, kam sie zur Tür und sagte: ›Wer sagt dir überhaupt, dass du als Erster diese Welt verlassen wirst? Und wenn ich eines Tages sterben werde, weil mich deine verdammten Schuhgeschäfte erschöpft haben, dann ist das Letzte, was ich vor Augen haben werde, ein Paar Ledersohlen.‹
    Dann umarmte deine Mutter ihn und schwor, er sei der anspruchsvollste Schuhmacher der ganzen Stadt, aber sie wolle keinen anderen als ihn zum Mann haben.
    Wir haben deinen Vater auf sein Bett gelegt, und deine Mutter hat ihn zugedeckt, so als würde er schlafen. Sie hat ihn geküsst und ihm Worte der Liebe zugeflüstert, die nur die beiden etwas angingen. Dann bat sie mich, euch zu wecken, und wir sind losgefahren, weil dein Vater es uns so befohlen hatte.
    Während ich die Pferde anspannte, packte deine Mutter ein paar Sachen zusammen, unter anderem auch die Zeichnung von deinen Eltern, die du auf der Kommode zwischen den beiden Fenstern in meinem Schlafzimmer siehst.«
    Daldry, ich bin ans Fenster getreten und habe das Bild in die Hand genommen. Ich habe ihre Gesichter nicht erkannt, aber der Mann und die Frau, die mich dort aus der Ewigkeit anlächelten, waren meine richtigen Eltern.
    »Wir fuhren einen guten Teil der Nacht«, erzählte Misses Yilmaz weiter, »und im Morgengrauen erreichten wir Izmit, wo meine Familie uns aufnahm.
    Deine Mutter war untröstlich. Sie verbrachte den größten Teil des Tages unter der großen Linde, die du vom Fenster aus siehst. Als sie sich etwas besser

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