Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
stellte seinen Rechen ab und sagte: »Ich erkenne dich, du bist die kleine Anouche.«
Zuerst dachte ich, er sei nicht ganz bei Verstand, aber dann erinnerte ich mich daran, dass wir beide dasselbe von dem armen Herrn Zemirli vermutet hatten. Daher habe ich meine Vorurteile beiseitegelassen und ihm geantwortet, er müsse sich täuschen, ich hieße Alice.
Er gab vor, sich sehr gut an mich zu erinnern. »Diesen verlorenen Kleinmädchenblick habe ich nie vergessen«, sagte er und lud uns zum Tee ein. Wir hatten kaum im Salon Platz genommen, da ergriff er meine Hand, seufzte und sagte: »Meine arme Anouche, ich bin so traurig wegen deiner Eltern.«
Wie konnte er wissen, dass meine Eltern bei der Bombardierung Londons ums Leben gekommen waren? Ich sah seine Verwirrung zunehmen, als ich ihm diese Frage stellte.
»Es soll deinen Eltern gelungen sein, nach England zu fliehen? Was erzählst du denn da, Anouche, das ist unmöglich.«
Seine Äußerungen ergaben für mich überhaupt keinen Sinn, aber er fuhr fort.
»Mein Vater hat deinen Vater gut gekannt. Diese Barbarei der jungen Verrückten damals, was für eine Tragödie! Wir haben nie erfahren, was aus deiner Mutter geworden ist. Weißt du, du warst nicht als Einzige in Gefahr. Man hat uns zur Schließung der Schule gezwungen, damit alles in Vergessenheit gerät.«
Ich verstand nichts von dem, was er erzählte, und verstehe noch immer nicht, was dieser Mann mir berichtete, Daldry, aber die Aufrichtigkeit in seiner Stimme hat mich berührt.
»Du warst ein fleißiges Kind, intelligent, auch wenn du nie gesprochen hast. Es war unmöglich, dir auch nur ein Wort zu entlocken. Deine Mutter verzweifelte daran. Kaum zu glauben, wie du ihr ähnelst. Als ich dich vorhin durch die Gasse kommen sah, glaubte ich anfangs, sie zu erkennen, aber das war natürlich unmöglich, es ist ja so lange her. Manchmal begleitete sie dich morgens, sie war so glücklich, dass du hier lernen konntest. Mein Vater war der Einzige, der dich in seiner Schule aufgenommen hat, die anderen hatten dich wegen deines starrköpfigen Schweigens abgelehnt.«
Ich habe diesen Mann mit Fragen überschüttet, warum behauptete er, meine Mutter habe ein anderes Schicksal gehabt als mein Vater, wo ich doch wusste, dass sie gemeinsam unter dem Bombenhagel ums Leben gekommen waren?
Er sah mich traurig an und sagte: »Weißt du, deine Kinderfrau hat noch lange auf den Höhen von Üsküdar gelebt, ich bin ihr manchmal auf dem Markt begegnet, aber seit einiger Zeit treffe ich sie nicht mehr. Vielleicht ist sie inzwischen verstorben.«
Ich fragte ihn, von welcher Kinderfrau er spreche.
»Erinnerst du dich nicht mehr an Frau Yilmaz? Dabei hat sie dich so sehr geliebt … Du verdankst ihr sehr viel.«
Die Unfähigkeit, mich an diese Jahre in Istanbul zu erinnern, macht mich wütend, und die Frustration verstärkt sich, seit ich die unklaren Äußerungen dieses alten Lehrers gehört habe, der mich bei einem Vornamen nennt, der nicht der meine ist.
Er hat uns durch sein Haus geführt und mir das Klassenzimmer gezeigt, in dem ich damals gesessen habe. Es ist ein kleines Lesezimmer geworden. Er wollte wissen, was ich heute machte, ob ich verheiratet sei, ob ich Kinder hätte. Ich erzählte ihm von meinem Beruf, und er war überhaupt nicht erstaunt darüber, dass ich diesen Weg gewählt hatte, sondern meinte dazu: »Die meisten Kinder, denen man einen Gegenstand gibt, stecken ihn in den Mund. Du hast an allem geschnuppert, es war deine spezielle Art, etwas anzunehmen oder abzulehnen.«
Anschließend hat er uns ans Tor am Ende der Sackgasse begleitet, und als ich über den Stamm der großen Linde strich, die ihren Schatten auf den Hof wirft, habe ich erneut diese Düfte wahrgenommen und definitiv gewusst, dass ich nicht zum ersten Mal dort war.
Can meint, dies sei sicher die Schule, die ich besucht hätte, aber der alte Lehrer habe sein Gedächtnis nicht mehr recht beisammen und mich mit einem anderen Kind verwechselt, weil sich seine Erinnerungen vermischen wie bei mir die Düfte.
Er sagt, nachdem mir bestimmte Dinge vertraut waren, würden sicher auch andere Erinnerungen zurückkommen, ich müsse nur Geduld haben und dem Schicksal vertrauen. Wäre die Stadtvilla nicht in Brand geraten, wären wir nie an das Tor dieser alten Schule gekommen. Auch wenn ich weiß, dass Can mich vor allem beruhigen wollte, hat er nicht ganz unrecht.
Daldry, in meinem Kopf schwirren so viele unbeantwortete Fragen herum. Warum hat mich
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