Die zwei Monde: Roman (German Edition)
angegangen. Es war nicht so spät, wie ich gedacht hatte: erst kurz nach Mitternacht. Wenn ich daher sage, dass ich noch lange wach gelegen und gegrübelt habe, dann meine ich wirklich lange.
Am nächsten Morgen war ich schließlich überzeugt, dass ich mir alles nur eingebildet hatte, wahrscheinlich infolge des Albtraums und des unvermittelten Aufwachens. Aber in der Nacht in meinem Bett, die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen, war mir alles schrecklich real erschienen: die Geräusche am Fenster, das erdrückende Gefühl der Gefahr, die geheimnisvollen olfaktorischen Fähigkeiten, die ich eine kleine Weile besessen zu haben glaubte. Und all das verschwand wieder, als ich das Licht anschaltete.
Bei dem Gedanken war mir die Schamesröte in die Wangen gestiegen. Veronica, die Kämpferin! Sie hatte sich in Gefahr gewähnt und einen unglaublich heroischen Auftritt hingelegt, indem sie wie eine Tigerin vom Stuhl gestürzt war, um … zum Lichtschalter zu rennen.
Um auf andere Gedanken zu kommen, hatte ich den Versuch unternommen, meine Erinnerung an den Abend des Festes zu reaktivieren: Eine blöde Idee natürlich, denn es machte mich nur noch nervöser. Ein paar Details waren mir wieder eingefallen, aber nichts Wichtiges. So ziemlich das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, war, dass Elena ein Tablett Wodka Shots mit Minze herumgereicht hatte. Ich mochte Wodka nicht, ich fand ihn zu stark und ziemlich geschmacksfrei, aber da alle einen genommen hatten, wollte ich nicht als Weichei dastehen. Wir hatten ihn alle gleichzeitig hinuntergestürzt, lachend und hustend – ich weiß zwar nicht mehr, ob ich auch gelacht habe, aber gehustet habe ich sicherlich –, und dann war jeder wieder zu dem zurückgekehrt, womit er gerade beschäftigt gewesen war: tanzen, quatschen oder mit dem jeweiligen Gesprächspartner flirten.
Ich war mit Sicherheit dabei, mich zu unterhalten. Ein ziemlich lustloses Gespräch mit meinem Gegenüber, der Person, die mir den Shot gebracht und sich an meinen Tisch gesetzt hatte. Mir kam es so vor, als wäre das Giada gewesen, aber vielleicht auch nur deshalb, weil ich sie am Vormittag auf der Toilette getroffen hatte: Es konnte gut sein, dass mein Gedächtnis die Leerstelle einfach mit ihrem Bild ausfüllte. Ich kann mich aber zumindest daran erinnern, dass mich mein eigenes Geplapper wenig oder gar nicht interessierte, und dass ich vielleicht gerade dabei war, aufzustehen und wegzugehen, um etwas Wichtigeres zu tun – aber dann riss der Faden einfach ab.
»Und? Machst du’s?«
Ich schreckte hoch. »Was?«
»Die Tetanusimpfung.«
Ach, ja, da war ja noch was, das ich meiner täglichen Liste an Seltsamkeiten hinzufügen musste. »Nein, ich glaube nicht, dass das was bringt.«
Irene zog die Augenbrauen hoch.
»Du hattest recht: Es ist nicht mal eine richtige Wunde, sondern eher ein großer Kratzer. Gestern Abend hat es schon nicht mehr wehgetan, und heute früh sieht man fast gar nichts mehr. Genau, wie du gestern gesagt hast: Ich habe mich ganz umsonst erschrocken.« Ich ließ es überzeugend klingen. Ich musste auch mich selbst damit überzeugen.
Irene lächelte erleichtert. »Okay. Aber falls du es dir anders überlegst, einfach zur Sicherheit, dann sag mir Bescheid und ich erklär dir alles.«
»Danke.«
»Und was macht die Hyperästhesie?«
Einen Moment lang war ich drauf und dran, Irene von dem Traum zu erzählen, und von dem, was danach gekommen war, aber ich bremste mich. Was hätte sie von mir denken sollen? Ich hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden ohnehin genug Anzeichen einer Hysterikerin gezeigt.
»Vorbei. Vielleicht auch nur Angst und Stress.«
Sie machte eine unbestimmte Handbewegung. »Seltsam, aber nicht ausgeschlossen.«
Die Klingel ging, und schon war die Italienischlehrerin im Zimmer; alle rannten zu ihren Plätzen, und in kaum vier Sekunden schien die ganze Klasse in bester Ordnung.
Ich holte tief Luft und hielt den Atem an. Killertest gleich in der ersten Stunde: keine Zeit zum Wiederholen, aber auch keine, um sich in Panik hineinzusteigern. Man sollte in jedem Unglück auch irgendwas Positives sehen.
Es folgten Minuten voller Spannung, während die Lehrerin das Klassenbuch zur Hand nahm und die Liste der Schüler durchging, die noch keine mündliche Note hatten. Sie rief zuerst zwei Namen auf, die beide nicht die meinen waren, und quetschte die Betreffenden eine halbe Stunde lang aus. Kein gutes Zeichen.
Ich lauschte mit einem Ohr auf die Folterqualen
Weitere Kostenlose Bücher