Die zwei Monde: Roman (German Edition)
meiner Mitschüler – von denen keiner besonders gut vorbereitet war – und versuchte gleichzeitig, in Blitzgeschwindigkeit den Stoff zu wiederholen. Obwohl ich den gestrigen Nachmittag über den Büchern verbracht hatte, schien alles wie weggeblasen, und die wenigen Stunden Schlaf waren auch nicht besonders hilfreich. Zur Hölle aber auch mit den Gespenstern, die nachts ans Fenster klopfen!
Als die beiden mit einem Mangelhaft an ihre Plätze zurückkehrten, warf ich einen Blick auf die Uhr meines Handys und hielt die Daumen: Es war nur noch Zeit für eine weitere Foltersitzung. Wenn mein Name jetzt nicht genannt werden würde, hieße das weitere drei Tage Aufschub, da die nächste »Fragestunde« erst am Freitag war.
Irene legte ihre Hand auf mein Handgelenk und schenkte mir eine Streicheleinheit.
Die Lehrerin hob ihre Augen von der Liste: »Meis.«
Ich stieß alle Luft aus, die ich in meiner Lunge hatte. Im Grunde war es besser so: War der Zahn erst gezogen, war auch der Schmerz vorbei.
Irene drückte meinen Arm. »Du wirst spitze sein! Du kannst es doch, du machst das schon.«
Ich antwortete ihr mit einem Lächeln (in das ich gern mehr Überzeugung gelegt hätte) und stand auf.
Während ich auf das Lehrerpult zuging, bat die Lehrerin um einen Freiwilligen, der mir Gesellschaft leisten sollte: Ich war die Letzte auf der Liste der Anwärter für eine mündliche Note. Auf meinem Weg nach vorn hob sich in der zweiten Reihe eine Hand, die Lehrerin stimmte zerstreut zu und ich drehte mich um, um zu sehen, wer sich gemeldet hatte: In aller Seelenruhe, fast als wolle sie ihre perfekte Lockenpracht nicht mit einer brüsken Bewegung durcheinanderbringen, erhob sich Susanna, ging auf der gegenüberliegenden Seite der Reihe nach vorn, mit einem Gang, der jeder Modenschau Ehre gemacht hätte, und blieb einen Meter von mir entfernt stehen.
Im ersten Moment hatte ich keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte: Ich war einfach zu nervös. Dennoch spürte ich einen herben Stich des Unbehagens. Ohne es zu wollen, warf ich einen Blick auf die zweite Reihe: Elena starrte mich mit völlig ausdruckslosem Gesicht an, aber die Lippen von Angela wurden – auch wenn sie in eine ganz andere Richtung sah – von einem kaum wahrnehmbaren Lächeln umspielt.
Die folgenden zwanzig Minuten fühlte ich mich wie im Fieberdelirium.
In dem Bewusstsein, dass seit meinem letzten mündlichen Test einige Zeit ins Land gegangen war, ersparte mir die Lehrerin nichts, weder Sprünge von einem Thema zum anderen noch fiese Fragen oder das Wiederaufgreifen von Stoff, den wir schon vor Monaten durchgenommen hatten. Ich tat mein Bestes, um sie zufriedenzustellen, ich verwertete jeden Brösel an gelerntem Wissen, den ich in meinem Kopf finden konnte, und versuchte die schwarzen Löcher mit Argumenten zu überdecken. Tatsächlich war das Resultat besser, als ich gedacht hätte.
Wenn da nicht Susanna gewesen wäre. Sie antwortete präzise, klar, schnell und ohne auch nur einen Sekundenbruchteil zu zögern; im Gegensatz dazu mussten die zwei, drei Atemzüge, die ich brauchte, um eine geeignete Information hervorzukramen, wie Stunden des Schweigens erscheinen. Obendrein reichte die Lehrerin von Anfang an alle Fragen, bei denen ich keine erschöpfende Auskunft geben konnte, an Susanna weiter und behielt dies bis zum Ende bei. Unnötig zu sagen, dass Susanna mit einer Perfektion reagierte, die einen zur Weißglut trieb.
Als es endlich klingelte, kehrte ich mit dem letzten Rest an Würde, den ich aufbringen konnte, zu meinem Platz zurück, den Blick in die zweite Reihe tunlichst vermeidend. Ich hatte eine Drei minus kassiert, aber eigentlich Besseres verdient, das war klar.
Ich schob die Italienischbücher in meine Tasche und zog die Englischbücher für die zweite Stunde hervor. Ich zitterte.
»Sie hat es mit Absicht getan.« Wenn ich auch versuchte, leise und kontrolliert zu sprechen, bemerkte ich doch eine hysterische Note in meiner Stimme.
Irene stieß einen Seufzer aus. »Wie kommst du da drauf?«
»Sie hätte wirklich keine weitere Eins gebraucht: Außerdem hatte sie ihre Noten schon zusammen.«
»Aber es hätte sich doch jeder freiwillig melden können. Sie war halt nur die, die es zuerst getan hat.«
Ich schüttelte den Kopf. »Angela hat gegrinst. Ich habe es ganz deutlich gesehen. Sie hat schon gegrinst, bevor wir angefangen haben.« Ich hob den Blick, um ihn auf die blonde Haarpracht der Prinzessin zu heften, die im Licht blitzte und
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