Die zwei Monde: Roman (German Edition)
leuchtete wie frisch gewaschen; so wie jeden Tag eben. »Sie hat Susanna dazu angestachelt.«
»Um dir die Show zu stehlen?«
Ich nickte.
»Dann handelt es sich also um eine Kriegserklärung?«
Ich antwortete mit einem Achselzucken und fuhr mir mit einer Hand über die Augen: Ich war todmüde und zutiefst deprimiert. »Ich würde wirklich gerne wissen, warum.«
»Es gibt kein Warum.«
Ich wandte mich meiner Freundin zu. Es war das zweite Mal heute Morgen, dass sie mich überraschte.
»Es gibt kein Warum«, wiederholte sie.
»Dann heißt das, dass sie mich einfach so auf dem Kieker haben, ohne irgendeinen Grund?«
Irene zuckte mit den Schultern, allerdings weniger demonstrativ, als ich das gerade getan hatte. »Leute wie die brauchen keinen Grund: Entweder du bist für sie, oder du bist gegen sie. Für sie, als Sklave oder als Bewunderer, gegen sie, als … als jemand, der auf sie herunterschaut.«
»Aber ich schaue doch gar nicht auf sie hinunter!«
»Das macht nichts. Du bist hübsch, hast Charakter und bist nicht blöd. Für sie ist so jemand entweder eine Ressource oder eine Rivalin: Es gibt keine Alternativen.«
Ich war ganz verlegen wegen der Komplimente. »Aber ich habe mich doch nie gegen sie gestellt …«
»Genau aus diesem Grund haben sie sich gegen dich gestellt. Wenn du versucht hättest, die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen, auch ohne eine von ihnen sein zu wollen, dann hätten sie das als Angriff auf ihre Beliebtheit aufgefasst. In diesem Fall hätten sie die Dinge einfach laufen lassen können, um sich überlegen zu geben. Vielleicht hätten sie auch versucht, dich an sich zu ziehen, und so ihr Terzett in ein Quartett zu verwandeln. Aber du versuchst gar nicht, beliebt zu sein: Du ziehst dich an wie eine Motorradbraut, antwortest eintönig, schaust den Leuten gerade in die Augen und machst ein böses Gesicht. Und trotzdem fällst du auf: Du bist keine, die unbemerkt bleibt. Und ihre Hofhaltung interessiert dich nicht die Bohne. Darum bist du der Feind.«
Es folgte ein langes Schweigen. Irenes Analyse hatte mich ziemlich umgehauen: Dieses Mädchen durchschaute die sozialen Spielregeln mit einer Klarheit, von der ich nur träumen konnte. Wie viele Geheimnisse versteckten sich noch hinter der sanften und leicht abwesenden Miene meiner Banknachbarin?
Ich wusste, dass sie recht hatte, nicht nur weil sie Angela und ihre Clique schon viel länger kannte, sondern auch – und vor allem –, weil ihre Argumentation den einfachen und unverwechselbaren Geschmack der Wahrheit hatte.
Meine Situation war mit der ihren eindeutig nicht vergleichbar, das verstand sogar ich: Auch sie war hübsch, einigermaßen beliebt und machte sich nicht viel daraus; aber sie war umgeben von einer Aura, die die drei Heldinnen davon abhielt, sie zu belästigen. Eine Aura, die zur Hälfte auf ihre Zerbrechlichkeit zurückzuführen war, die jeden, der sich mit der Absicht trug, ihr auch nur ein Haar zu krümmen, ins Unrecht gesetzt hätte; und die zur anderen Hälfte von einem unsichtbaren, aber spürbaren Heiligenschein herrührte, den Reichtum und Zugehörigkeit zur Oberschicht ihr verliehen und der sie auf eine andere Stufe stellte als mich und offensichtlich auch als Angela und Co. Eine zu schwierige Beute also. Zu riskant.
Was automatisch die Schlussfolgerung mit sich brachte, dass ich offensichtlich weniger riskant war. Ich war die leichte Beute.
Ich hatte große Lust, irgendwas kaputt zu schlagen.
In der Pause zeigte ich Irene auf der Toilette noch einmal meinen Knöchel: Auch die Kratzer waren fast verschwunden, nur ein ringförmiger Abdruck und ein paar rote Punkte waren übrig. Man hätte das allerhöchstens noch als blaue Flecken bezeichnen können. Irene zeigte sich zufrieden mit dem, was sie sah.
Beim Verlassen der Toilette warf sie mir einen verwunderten Seitenblick zu. »Freust du dich denn nicht, dass es nichts Erns tes ist?«
»Doch.«
»Du siehst aber nicht so aus.«
»Es ist nur …« Ich biss mir auf die Unterlippe. »Ich weiß auch nicht. Zu viel merkwürdige Dinge in letzter Zeit.«
Ich blieb an der Tür stehen und blickte den Korridor voller lachender und laut schwatzender junger Leute hinunter. An die gegenüberliegende Wand gelehnt, stand Alex; mit funkelnden Augen und diesem schrecklichen Lächeln, das mich blendete wie ein Scheinwerfer. Er plauderte gerade mit einem schwarzhaarigen Mädchen aus einer anderen Klasse, das ich nicht kannte. Er wirkte vollkommen entspannt und fühlte
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