Die zwei Monde: Roman (German Edition)
startete den Motor und war im Handumdrehen hinter der nächsten Kurve verschwunden. Er hatte nicht mal bemerkt, dass ich nur ein paar Meter von ihm entfernt stand.
Es dauerte ziemlich lange, bis ich meine Füße vom Boden lösen konnte. Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und strebte Richtung Metro.
Immer noch schwärmten meine Mitschüler laut plappernd über Gehsteig und Straße, aber ich nahm sie kaum noch zur Kenntnis: Ich hatte das Gefühl, in einen dichten Nebel gehüllt zu sein, und ich spürte, wie meine Augen brannten. Aber es waren keine Tränen. Veronica weint nicht, nicht wegen einem Jungen, nein Herrschaften, und erst recht nicht wegen einem Jungen, den sie kaum kennt und der sich von blonden Püppchen beeindrucken lässt, die andere Leute behandeln wie …
Ich biss mir heftig auf die Unterlippe. Zu heftig. Diesmal fühlte ich wirklich eine Träne, die meine Wange hinunterrollte, aber das war ja wohl normal: Ich hatte mir soeben auf die Lippe gebissen, oder?
Am anderen Ende der Reihe von parkenden Motorrollern stand, an die Mauer gelehnt, ein Mädchen. Ich streifte sie mit einem flüchtigen Blick, blieb aber dann an hier hängen, als mir bewusst wurde, was ich da gesehen hatte.
Sie war jünger als ich, dreizehn oder vierzehn Jahre alt vielleicht; wenn sie ins Parini-Gymnasium ging, dann konnte sie höchstens in der siebten Klasse sein. Sie hatte ein außergewöhnlich kleines Gesicht, runde Wangen, ein fliehendes Kinn und riesige kastanienbraune Augen, die im Vergleich zum Rest viel zu groß wirkten. Es war eines dieser Gesichter, das man, obwohl es niedlich war, kaum zweimal angesehen hätte.
Aber dann waren da ihre Haare und die Sachen, die sie anhatte. Echt seltsam: einen dunklen Rock, viel länger und viel weniger schön als die von Irene, und eine Art weißes, unförmiges Schürzenkleid mit langen Ärmeln, vielleicht aus Baumwolle, aber auf jeden Fall völlig ungeeignet für das Winterwetter. An den Füßen trug sie Sandalen und hatte weder einen Anorak an, noch eine Schultasche bei sich, aber sie trug Blumen im Haar …
Wirklich wahr: Ihre lange, dunkelbraune Lockenmähne war mit winzigen, strahlend weißen Blumenblüten gesprenkelt.
Ich blieb stehen und starrte sie mit offenem Mund an: Sie schien einem Spielfilm aus den Siebzigern entsprungen zu sein oder einem Dokumentarfilm über Hippies.
Bisher hatte sie an die Mauer gelehnt auf den Gehsteig zu ihren Füßen geschaut, aber wie als Antwort auf meinen Blick hob sie den Kopf und richtete sich auf.
Wir starrten einander an, zwei weit aufgerissene Augenpaare, die sich trafen: Die meinen waren weit vor Staunen, die ihren vor Bedrängnis, als müsste sie mir etwas ungeheuer Wichtiges mitteilen. Sie bewegte sich zwei Schritte nach vorn, und ich war mir sicher, dass sie auf mich zukam.
In diesem Moment drehte der Fahrer des neben ihr geparkten Motorrollers den Zündschlüssel im Schloss: Der Auspuff produzierte einen Knall und eine Rauchwolke, und das Mädchen machte mit einem verängstigten Schrei einen Satz rückwärts.
Meine Augen verschleierten sich. Anders kann ich es nicht nennen: Ich fühlte, wie sie brannten und sich mit Tränen füllten, als hätte mir jemand Staub ins Gesicht geworfen. Ich rieb wie verrückt und drei Sekunden später war das lästige Gefühl weg.
Aber das Mädchen auch. Nur der Junge mit dem Motorroller – der offensichtlich überhaupt nichts mitbekommen hatte – rollte den Gehsteig hinunter und fuhr davon.
Ich sah mich nach allen Seiten um: überall Jungen und Mädchen, aber nirgends eins mit einem dunklen Rock, einem unförmigen Schürzenkleid und Blumen in den Haaren.
Und doch hatte ich sie gesehen.
Ich ging zu der Stelle, wo sie gestanden hatte. Zu meinen Füßen, gut sichtbar auf dem Grau des Gehsteigs, lag ein weißes Blümchen. Ich bückte mich, um es aufzuheben: Es war klein wie ein Fingernagel, fünf schneeweiße Blütenblätter um ein goldenes Herz herum. Ich hielt es mir unter die Nase, aber es hatte keinen Duft.
K apitel 5
Dienstag, 10. Februar, und Mittwoch, 11. Februar
Abnehmender Mond
U m vier Uhr nachmittags war ich kurz davor, zu platzen. Ich klappte die Bücher zu und beschloss, ins Schwimm bad zu gehen, auch wenn kein Donnerstag war: Schwimmen war eine gute Möglichkeit, sich zu entspannen.
Ich warf einen Blick auf die Blume, die ich vom Gehsteig aufgesammelt hatte. Ich hatte sie in ein Glas auf meinen Schreibtisch gestellt, nahe beim Fenster, aber in den wenigen Stunden war sie schon
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