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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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tun?«
    »Kommt drauf an … Es muss nicht unbedingt gefährlich sein. Mir passiert es zum Beispiel auch, wenn ich Erdbeeren esse: Ich kriege lauter rote Punkte auf der Zunge und kann den Geruch der Früchte nicht mehr ertragen. Und wenn ich zu wenig schlafe, erscheinen mir alle Geräusche unerträglich laut, sogar das Ticken der Uhr. An deiner Stelle würde ich einfach mal bis morgen warten: Wenn es von selber aufhört, ist es nicht weiter schlimm.«
    »Und wenn es nicht aufhört?«
    Irene schüttelte den Kopf. »Dann geh zum Arzt.«
    »Hast du eine Ahnung, wie das mit dem Schularzt hier ist? Wenn ich zu dem gehe, um meinen Knöchel anschauen zu lassen und auch … das andere, werden dann meine Eltern verständigt?«
    »Wahrscheinlich.«
    Ich pfiff leise durch die Zähne.
    »Aber was hast du denn mit deinem Knöchel angestellt?«, fragte sie. »Eine Zerrung vielleicht?«
    Trotz allem musste ich grinsen: Wenn man mit Irene redete, schien es, als wäre man schon beim Arzt.
    »Nein, ich würde eher sagen eine … Wunde. Ich glaube, ein Hund hat mich gebissen oder so was.«
    »Was heißt das, du glaubst ?«
    »Dass ich mich nicht daran erinnern kann, das habe ich dir doch schon gesagt.« Plötzlich kam mir ein neuer, alles andere als beruhigender Gedanke. »Dieses Nervenproblem, von dem du vorhin gesprochen hast …«
    »Die Hyperästhesie.«
    »Könnte das ein Symptom sein für … Tollwut?«
    Irene senkte einen Moment den Blick und durchwühlte die medizinische Enzyklopädie in ihrem Kopf. »Vielleicht, ich bin nicht sicher. Aber sicher nicht vor dem Endstadium der Krankheit.«
    »Endstadium?«
    »Dem Stadium, in dem man stirbt.«
    Wahrscheinlich war ich kreidebleich geworden, denn ihre Augen weiteten sich und sie legte schnell eine Hand auf die meine. »Reg dich nicht auf, Veronica. Es ist praktisch unmöglich, im Zentrum von Mailand von einem tollwütigen Hund gebissen zu werden: Hier gibt es keine Tollwut, nicht bei uns.«
    Ich brauchte drei ganze Sekunden, um die Nachricht aufzunehmen, und wenigstens doppelt so lang, bis sich mein Herzschlag wieder zu normalisieren begann.
    »Und Wundstarrkrampf?«, flüsterte ich. »Kann man den kriegen von einem Hundebiss?«
    Irene presste die Lippen aufeinander. »Ich fürchte ja, auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist. Hast du die Wunde desinfiziert?«
    Ich ärgerte mich über mich selbst. »Nein.«
    »Dann würde ich mich gegen Tetanus impfen lassen.«
    Ich schluckte. »Und wo kann man das machen?«
    »Ich werde mich informieren.«
    »Aber diskret, bitte!«
    »Diskret.« Sie lächelte mich an und drückte von Neuem meine Hand.
    Drei Stunden später, in der Pause, bat ich sie, mit mir auf die Toilette zu kommen, um sich die Wunde anzusehen. Es war das erste Mal, dass ich mit einem anderen Mädchen zur Toilette ging, seit ich in Mailand war: Um dem Tag auch eine positive Seite abzugewinnen, versuchte ich, das als Zeichen für einen Fortschritt in unserer Freundschaft zu werten.
    Ich zog meinen Stiefel aus und nahm vorsichtig die Jeans hoch; die Wunde tat schon weniger weh als beim Aufwachen. Irene bückte sich, um mit professioneller Miene meinen Knöchel zu studieren. »Es sieht tatsächlich aus wie ein Hundebiss, allerdings nur ein oberflächlicher: Die Haut ist ja nicht mal gerötet. Du hast dir völlig umsonst Sorgen gemacht.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Wie, sie ist nicht gerötet?«
    Ich bückte mich, um selber zu schauen: Die Wunden schienen deutlich kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte.
    Ich runzelte die Stirn und studierte die Stelle noch genauer. Irene hatte recht: Es war wirklich nur ein kleines bisschen rot um die Krusten herum, und die tiefen Einkerbungen, die ich einige Stunden vorher gesehen hatte – oder zu sehen geglaubt hatte – sahen eher aus wie große Kratzer.
    Ich tastete mich vorsichtig ab: Es tat zwar weh, aber weniger als vorher. Viel weniger.
    »Ich komme mir vor wie eine Idiotin. Ich schwöre, dass sie heute Morgen noch ganz anders ausgesehen haben.«
    Irene schenkte mir ihr typisches Lächeln, süß und blutleer. »Du hast dich nur erschreckt. Komm, gehen wir zurück: Es klingelt gleich.«
    »Geh schon mal vor: Ich wasche mir noch die Hände und komme nach.«
    Irene verließ die Toilette, während ich mein Hosenbein herunterzog und wieder in meine Stiefel schlüpfte.
    Ich ließ Wasser über meine Hände laufen, als die Tür aufging und Giada hereinkam, ein etwas untersetztes und eher schweigsames Mädchen, das zwei Reihen vor mir saß.

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