Die Zweierbeziehung
weiche der Besprechung von Problemen aus, weil er außerordentlich empfindlich gegenüber jedweder Meinungsverschiedenheit sei. Marlis sieht in ihm einen Menschen von außergewöhnlicher Sensibilität, die manchmal direkt ein telepathisches Ausmaß annehme. Sie sieht in seiner Schroffheit einen Selbstschutz, aber auch ihr gegenüber einen Schutzwall, der es ihr ermöglicht, sich in die Liebe ganz einzulassen, in der Gewissheit, von ihm auf Abstand gehalten zu werden. Die Verschmelzung könnte gefährlich werden, wenn Armin sie nicht ausreichend auf Distanz halte. Armin vermeide intime Gespräche aus Angst, es könnten dabei Divergenzen zwischen ihnen sichtbar werden.
Sexuell ist Marlis aus religiösen Gründen eher zurückhaltend. Sie stellt an ihren Freund höchste Idealforderungen von absoluter Treue in Gedanken, Wort und Taten. Ein Seitensprung würde ihr Leben zerstören. Armin sei ihr bisher immer treu geblieben. Sie überforderte aber Armin mit ihren absoluten Treueidealen.
Vor einem Jahr teilte ihr Armin überraschend mit, dass er sich entschieden habe, sich von ihr zu trennen. Nach Hinweisen einer Wahrsagerin, die er aufgesucht habe, seien sie nicht füreinander bestimmt. In der Folge bestand offiziell und äußerlich keine Beziehung mehr. Wenn sie sich aber zufällig sehen, schwingen sie gleich wieder intensiv und unverändert auf derselben Wellenlänge. Es besteht zwischen ihnen nach wie vor eine ganz spezielle Verbindung, die sie zu keinem anderen Menschen haben.
Therapeutisch stellte ich die exklusiven, hohen Ideale infrage, weil diese letztlich verhindern, dass die Partner miteinander in eine realistische Lebensgemeinschaft eintreten. Ihre Liebe bleibt unfruchtbar, virtuell, sie erzeugt keine reale gemeinsame Welt. Wahrscheinlich fühlt Armin sich von ihren hohen Idealen überfordert. Doch es war für Marlis schwer zu akzeptieren, dass sie die hohen Ideale aufgeben müsste, um eine realistische, aber banalere Liebe zu leben. Sie stellte mir die Frage: «Ist meine Liebe nicht die reine Liebe, die totale Liebe? Wozu soll ich eine so ideale Liebe aufgeben, um mich mit einer Liebesbeziehung minderer Qualität abzufinden? Was wäre dabei der Gewinn?»
Überforderung durch die absolute Liebe
Die hohen Ideale der absoluten Liebe können die Partner überfordern, die Verpflichtung auf Harmonie und Hingabe wirkt einengend. Die oft nicht erfüllbaren Ideale erzeugen dann Schuldgefühle und Vorwürfe. Manche Paare versuchen die Erfüllung der absoluten Liebe, wie sie sich in ausgeprägter Form im Verliebtsein ergibt, zu erhalten, indem sie jeden Streit aus ihrer Beziehung verbannen und eine absolute Harmonie zu leben versuchen. Die Folge des Harmoniestrebens ist allerdings, dass die Beziehung damit an erotischer Spannung verliert. Die Partner meiden Auseinandersetzungen und damit aber auch die Entwicklung und Differenzierung ihrer Beziehung.
Die Quintessenz ist, dass die absolute Liebe in der Realität in der Liebesbeziehung nicht in reiner Form gelebt werden kann, sondern durchkreuzt wird von anderen Strömungen, zum Beispiel sexuellen Phantasien, oder von den Realitäten des Alltagslebens. Es gehört zu einer normalen Liebe, dass es auch Widersprüchliches und Trennendes gibt. Das heißt nicht, dass die absolute Liebe eine Illusion ist. Es heißt lediglich, dass die Sehnsucht nach der absoluten Liebe nicht in reiner exklusiver Form gelebt werden kann und nur zeitlich begrenzt Erfüllung findet. Sie bildet nach positivem Überstehen der Enttäuschungsphase die ideelle Grundlage einer Liebesbeziehung, die für den Fortbestand der Beziehung eine hohe Bedeutung bewahrt. Die Erfüllung der absoluten Liebe findet in Momenten des Glücks eine zeitlich begrenzte Form. Doch diese Momente des Glücks spenden neue Hoffnung und Bereitschaft, die Ernüchterung und Verletzung durch die Alltagsrealitäten zu ertragen.
Handelt es sich bei der Kollusion der absoluten Liebe nicht einfach um eine narzisstische Kollusion?
Der Narzisst erwartet von seinem Partner, dem Komplementärnarzissten, dass er sich bedingungslos mit dem grandiosen Selbst des Narzissten identifiziert und dessen Verwirklichung unterstützt, dabei aber keine eigenen Ansprüche und Anliegen einbringt. Er lässt sich als Selbst-Objekt benutzen, das mit dem Narzissten eine «Unio mystica» (geheimnisvolle Vereinigung) eingeht.
In der Sehnsucht nach der absoluten Liebe dagegen will die liebende Person dem abwehrenden Partner zeigen, was wahre Liebe
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