Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zweierbeziehung

Die Zweierbeziehung

Titel: Die Zweierbeziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürg Willi
Vom Netzwerk:
tiefe Ambivalenz zwischen Nähe und Distanz vorliege. Meines Erachtens wäre es wichtig, dass er lerne, diese Ambivalenz auszuhalten und dazu zu stehen, ohne sie korrigieren zu wollen. Er widersprach, das möchte er gerade nicht, dazu müsse er nicht zur Therapie kommen. Er finde seine Untreue abnormal, als ein persönliches Versagen. Ich interpretiere seine Ambivalenz nicht als Defizit, sondern als Hinweis auf seine Sensibilität und hohe Differenzierung, als Hinweis, dass er sich schützen müsse gegen die Tendenz, sich zu stark in eine Beziehung einzulassen und sich damit zu überfordern. Er scheint dankbar zu sein für diese Interpretation. Er habe Mühe, sich nicht von außen bestimmen zu lassen und nicht unter den Einfluss von Gesprächspartnern zu geraten.
    In der vierten Sitzung, die erst in größerem zeitlichen Abstand stattfand, äußerte Stefan, er wolle Martha heiraten und habe das Hochzeitsdatum festgelegt. Er habe bereits Anzeigen verschickt. Ich äußerte mich erstaunt und artikulierte ein gewisses Unbehagen, ob das nicht zu schnell gehe. Er betont, dass die Heirat nichts verändern werde und dass er die Beziehung zu Angelika trotzdem nicht aufgeben werde. Er reagierte gereizt auf jede Form von Festlegung. Ich sage, dass das forcierte Anstreben von Bindung die Gegenstimmen bei ihm verstärken werde und es wichtig wäre, die Gegenstimmen von vornherein zuzulassen, um sie in ihrer Wirkung einzuschränken.
    Die Frau äußerte nun, dass viele Beziehungen bei ihr gescheitert seien, weil sie die Männer habe «auffressen» wollen. Sie wolle jeweils zu viel Nähe und werde deswegen immer wieder von Männern zurückgewiesen. Bei Stefan konnte sie die Phantasie von stabiler und verpflichtender Nähe gar nicht aufkommen lassen, weil er sich immer im Voraus vor jeder Verbindlichkeit schützte. Sie habe mit ihm ihre tiefste Liebesbeziehung, trotz seiner radikalen Abgrenzung und Tendenz zur Zurückweisung. Es liege eine ganz tiefe Verbundenheit mit ihm vor, obwohl er sie laufend verletze. Das schütze sie vor ihren Tendenzen, zu viel Nähe herstellen zu wollen. Das Leiden an der Liebe fordere ihr persönliches Wachstum heraus. Sie müsse lernen, ihr Glück nicht von ihm abhängig zu machen. Sie glaubt, das Schicksal habe ihr diese Beziehung zugesprochen. Die Außenbeziehung fordere ihr ab, loszulassen und in sich verankert zu bleiben.
    Nach der siebten Sitzung hatten sie geheiratet. Ich erwartete daraufhin eine verstärkte Zurückweisung durch Stefan, doch das Gegenteil war eingetreten. Die Heirat hatte seine Einstellung verändert. Er habe sich nun für diese Lebensform entschieden und werde sich an die damit verbundenen Regeln halten. Zu meinem Erstaunen trug er den Ehering.
    Ich war überrascht, von Martha zu erfahren, dass es bei ihr zu einer komplementären Gegenbewegung zu Stefan gekommen war. Plötzlich war sie ambivalent in ihrer Beziehung zu Stefan. Es kam heraus, dass sie die Beziehung zu ihrem Exmann trotz 17-jähriger Trennung heimlich weitergeführt hatte. Ihr Exmann war wütend, dass sie wieder geheiratet hatte. Sie hatte Angst, ihn mit einem klaren Bekenntnis zur jetzigen Ehe zu verletzen. Sie wollte ihm nicht klarmachen, dass ihre Beziehung zu ihm beendet sei. Stefan nahm diese Ambivalenz erstaunlich gelassen hin.
    Ein Jahr nach der achten Sitzung kamen Stefan und Martha zu einer Nachbesprechung. Sie hatten in der Zwischenzeit ein eigenes Haus gekauft. Der Schwerpunkt ihres Lebens war jetzt eindeutig ihre Beziehung. Martha wirkte mehr in sich gekehrt, versonnen, er aber wirkte viel entspannter und humorvoller. Beide waren dankbar für die Therapie. Beide hatten sich mit dem uneingestandenen Anteil der Kollusion auseinandergesetzt, die Frau mit der uneingestandenen Angst vor Bindung, die im Widerspruch stand zu ihrer Suche nach einer festen Bindung. Bei Stefan ging es dabei um seine Wünsche nach einer festen Bindung, die er sich bis dahin nicht eingestehen konnte, obwohl er sich dementsprechend ihr gegenüber verhalten hatte. Die Beziehung zu seiner Freundin hatte er aufgegeben. Er habe eingesehen, dass sie nicht zu ihm passe, weil sie zu labil und zu oberflächlich sei. Aber er hatte immer noch etwas Mühe anzuerkennen, dass diese Außenbeziehung nicht kompatibel mit seiner Ehe war.
    Die Partner zeigten sehr eindrücklich das kollusive Kipp-Phänomen: Die auf beidseitiger Ambivalenz gründende Problematik kippte scheinbar in ihr Gegenteil um. Die Frau, die zuvor eine feste Bindung suchte, war nun

Weitere Kostenlose Bücher