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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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nach ihrem Daddy rief, und Charlotte ebenfalls, aber er konnte sie nicht ausfindig machen. Er lief in eine Richtung, dann in eine andere, aber ihre von zunehmender Panik gezeichneten Stimmen schienen stets hinter ihm zu sein. Die unbekannte Gefahr war näher gekommen, noch näher, die Mädchen hatten Angst und weinten, Paige rief seinen Namen mit einer derart entsetzten Stimme, daß Marty anfing zu weinen ob seines Unvermögens, sie zu finden, o gütiger Gott, und es war fast bei ihm, das Ding, was immer es auch sein mochte, so unaufhaltsam wie ein fallender Mond, Welten im Zusammenstoß, ein unvorstellbares Gewicht, eine Urkraft wie diejenige, die das Universum erschaffen hatte, so zerstörerisch wie die, die ihm eines Tages ein Ende bereiten würde, und Emily und Charlotte schrien, schrien …
    Westlich der Painted Desert, vor Flagstaff, Arizona, kurz vor fünf Uhr am Montagmorgen, wirbeln vor der Dämmerung Schneeflocken vom Himmel, und die kalte Luft ist ein scharfes Skalpell, das ihm bis auf die Knochen schneidet. Die braune Lederjacke, die er vor noch nicht einmal sechzehn Stunden dem toten Mann in dem Wohnmobil in Oklahoma abgenommen hat, ist nicht dick genug, ihn in der frühmorgendlichen bitteren Kälte warm zu halten. Er zittert, als er den Honda an einer Selbstbedienungszapfsäule volltankt.
    Als er wieder auf der Interstate ist, beginnt er die dreihundertfünfzig Meilen lange Reise nach Barstow, Kalifornien. Sein Zwang, weiter nach Westen zu fahren, ist inzwischen so stark, daß er sich hilflos in dessen Griff befindet, wie ein Asteroid, der, von der gewaltigen Schwerkraft der Erde eingefangen, unerbittlich einem katastrophalen Zusammenstoß entgegen gezogen wird.
    Grauen riß ihn aus dem Traum von Dunkelheit und unbekannter Gefahr: Marty Stillwater richtete sich kerzengerade im Bett auf. Sein erster wacher Atemzug war so explosionsartig, daß er sicher war, er hatte Paige geweckt, aber sie schlief ungestört weiter. Er war eiskalt und dennoch schweißgebadet.
    Allmählich schlug sein Herz nicht mehr so angstvoll. Durch die leuchtenden grünen Ziffern der Digitaluhr, das rote Leuchten der Fernsehanzeige und die indirekte Beleuchtung am Fenster war das Schlafzimmer nicht annähernd so schwarz wie die Ebene in seinem Traum.
    Aber er konnte sich nicht wieder hinlegen. Der Alptraum war realistischer und erschreckender gewesen, als alle, die er bisher gehabt hatte. Unmöglich, jetzt wieder einzuschlafen.
    Er schlüpfte unter der Decke hervor und ging barfuß zum nächsten Fenster. Er studierte den Himmel über den Dächern der Häuser auf der anderen Straßenseite, als könnte ihn etwas in seinem dunklen Gewölbe beruhigen. Statt dessen stellte er fest, daß der schwarze Himmel am Horizont eine graublaue Färbung annahm, und der Einbruch der Dämmerung erfüllte ihn mit dem irrationalen Grauen, das er am Samstagnachmittag in seinem Arbeitszimmer verspürt hatte. Während der Himmel sich verfärbte, fing Marty an zu zittern. Er versuchte, sich zu beherrschen, aber das Zittern wurde immer schlimmer. Er fürchtete nicht das Tageslicht, sondern etwas, das der Tag mit sich brachte, eine namenlose Bedrohung. Er konnte spüren, wie diese nach ihm griff, ihn suchte – das war verrückt, verdammt –, und da schlotterte er so sehr, daß er eine Hand auf den Fenstersims legen mußte, um sich zu stützen.
    »Was ist bloß los mit mir?« flüsterte er verzweifelt. »Was geschieht mit mir, was stimmt nicht?«
    Stunde um Stunde verharrt die Tachonadel bebend zwischen 90 und 100. Das Lenkrad vibriert unter seinen Handflächen bis seine Hände schmerzen. Der Honda dröhnt und scheppert. Der Motor gibt ein dünnes, konstantes Heulen von sich; er ist die Dauerbelastung nicht gewöhnt.
    Rostrot, knochenweiß, schwefelgelb, das blasse Purpur verödeter Adern, trocken wie Asche, kahl wie der Mars, heller Sand mit reptilienhaften Rückenplatten aus Felsgestein, dazwischen verdorrte Grüppchen Mesquitesträucher: der grausamen Weite der Mojave-Wüste wohnt eine majestätische Leblosigkeit inne.
    Unweigerlich denkt der Killer an alte Filme über Siedler, die mit Planwagen nach Westen ziehen. Zum ersten Mal wird ihm klar, wieviel Mut es erfordert, mit diesen baufälligen Fahrzeugen zu reisen und das eigene Leben der Gesundheit und Ausdauer von Zugpferden anzuvertrauen.
    Filme. Kalifornien. Er befindet sich in Kalifornien, der Heimat der Filme.
    Weiter, weiter, weiter.
    Von Zeit zu Zeit entfährt ihm ein unfreiwilliges Wimmern. Das

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