Die zweite Haut
Einlagern gereinigt und geölt worden waren, und lud sie.
Die Beretta trug er in die Küche und legte sie in eines der oberen Schränkchen neben dem Kamin, vor zwei Keramikschüsseln. Dort würden die Mädchen sie nicht finden, bis er eine Familienkonferenz einberufen und die Gründe für seine außergewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen erklärt hatte – wenn er sie erklären konnte.
Das M16 wanderte in einen Schrank im Foyer gleich bei der Eingangstür. Er legte die Smith & Wesson in seine Schreibtischschublade, in die zweite Schublade auf der rechten Seite, und die Mossberg unter das Bett im Schlafzimmer.
Die ganze Zeit während seinen Vorbereitungen machte er sich Gedanken, ob er sich nicht möglicherweise gegen eine Gefahr wappnete, die überhaupt nicht existierte. Angesichts der Fugue, die er am Samstagnachmittag erlebt hatte, sollte er eigentlich als allerletztes mit geladenen Waffen herumspielen.
Er hatte keinen Beweis dafür, daß Gefahr drohte. Er handelte rein aus Instinkt, eine Soldatenameise, die hirnlos Befestigungen anlegt. So etwas war ihm noch nie passiert. Er war von Natur aus ein Denker, ein Planer, ein Tüftler, auf gar keinen Fall aber ein Mann der Tat. Aber dies war eine Sturzflut instinktiver Reaktionen, und er wurde von ihr mitgerissen.
Als er das Gewehr unter dem Bett im Schlafzimmer versteckt hatte, wurden die Gedanken über seinen Geisteszustand unvermittelt von anderen Überlegungen verdrängt. Die niederschmetternde Atmosphäre seines letzten Traums überkam ihn wieder, das Gefühl, als würde ein schreckliches Gewicht mit mörderischer Geschwindigkeit auf ihn zurasen. Die Luft schien dicker zu werden. Es war fast so schlimm wie in dem Alptraum. Und es wurde immer schlimmer.
Gott steh mir bei, dachte er – aber er wußte nicht, ob er um Beistand gegen einen unbekannten Feind oder gegen die finsteren Impulse in sich selbst flehte.
»Ich muß …«
Windhosen. Tanzen in der Hochwüste.
Sonnenlicht funkelt auf zerbrochenen Flaschen entlang des Highway.
Schnellstes Fahrzeug auf der Straße. Überholt Autos, Lastwagen. Die Landschaft verschwimmt zur Schliere. Verstreute Städte, nur Schlieren.
Schneller. Schneller. Als würde er in ein schwarzes Loch gesogen.
An Victoriaville vorbei.
An Apple Valley vorbei.
Durch den Cajon Paß, tausenddreihundertneunzig Meter über dem Meeresspiegel.
Dann abwärts. Durch San Bernadino. Auf den Riverside Freeway.
Riverside. Carona.
Durch die Santa Ana Mountains.
»Ich muß jemand …«
Süden. Der Costa Mesa Freeway.
Die Stadt Orange. Tustin. Im Vorstadtlabyrinth von Südkalifornien.
Mächtiger Magnetismus, zieht, zieht unablässig.
Mehr als Magnetismus. Schwerkraft. In den Strudel des schwarzen Lochs hinab.
Wechseln auf den Santa Ana Freeway.
Trockener Mund. Bitterer, metallischer Geschmack. Rasen des Herzklopfen, pochende Schläfen.
»Ich muß jemand werden.«
Schneller. Als wäre er ein schwerer Anker an einer endlosen Kette, der in die dunklen Tiefen eines grundlosen Meeresgrabens hinabsinkt.
Vorbei an Irvine, Laguna Hills, El Toro.
Ins dunkle Herz des Geheimnisses.
»… muß … muß … muß … muß … muß …«
Mission Viejo. Die Ausfahrt. Ja.
Runter vom Freeway.
Suche den Magneten. Die geheimnisvolle Anziehungskraft. Den weiten Weg von Kansas hierher, um das Unbekannte zu finden, um seine seltsame und wunderbare Zukunft zu entdecken. Zuhause. Identität. Sinn.
Links abbiegen, zwei Blocks, rechts abbiegen. Unbekannte Straßen. Aber um den Weg zu finden, muß er sich nur der Macht ergeben, die ihn anzieht.
Mediterrane Häuser. Ordentlich gemähte Rasen. Palmenschatten auf pastellgelben Stuckwänden.
Hier.
Dieses Haus.
Zum Bordstein. Anhalten. Einen halben Block entfernt.
Ein Haus wie alle anderen. Ausgenommen. Etwas im Inneren. Was er im fernen Kansas zum ersten Mal gespürt hat. Was ihn angezogen hat. Etwas.
Die Anziehungskraft.
Drinnen.
Wartend.
Ein wortloser Triumphschrei entringt sich ihm, und er erschauert heftig vor Erleichterung. Er muß sein Schicksal nicht mehr suchen. Er weiß zwar noch nicht, was es sein könnte, ist aber sicher, daß er es gefunden hat, daher sackt er auf dem Sitz zusammen, seine verschwitzten Hände rutschen am Lenkrad ab, und er freut sich, daß er am Ende seiner langen Reise angelangt ist.
Er ist aufgeregter, als er es jemals gewesen ist, und von Neugier erfüllt; aber nachdem er sich aus dem eisernen Klammer griff des Zwangs befreit hat, verschwindet auch das drängende Gefühl
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