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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Geräusch ist das eines Tieres, das in Sichtweite eines Wasserlochs verdurstet, sich auf den Tümpel zuschleppt, der die Rettung bedeutet, aber fürchtet, es könnte sterben, bevor es seinen brennenden Durst löschen kann.
    Paige und Charlotte waren bereits in der Garage, um das Auto zu holen, und riefen: »Emily, beeil dich!«
    Als Emily sich vom Frühstückstisch abwandte und zu der offenen Tür ging, die die Küche mit der Garage verband, hielt Marty sie an den Schultern fest und drehte sie zu sich um.
    »Warte, warte, warte.«
    »Oh«, sagte sie, »hab’ ich ganz vergessen«, und stellte sich für einen Kuß auf die Zehenspitzen.
    »Das kommt als zweites«, sagte er.
    »Und als erstes?«
    »Das.« Er ließ sich auf ein Knie nieder, damit er auf einer Ebene mit ihr war, und wischte ihr mit einer Papierserviette den Milchschnurrbart ab.
    »Oh, schlimm«, sagte sie.
    »Es sah süß aus.«
    »Paßt eher zu Charlotte.«
    Er zog eine Braue hoch. »Hm?«
    »Sie ist die Schlampige.«
    »Sei nicht so unhöflich.«
    »Sie weiß es, Daddy.«
    »Trotzdem.«
    Paige rief erneut aus der Garage.
    Emily gab ihm einen Kuß, und er sagte: »Mach deiner Lehrerin keinen Ärger.«
    »Nicht mehr als sie mir«, antwortete Emily.
    Er zog sie impulsiv an sich, drückte sie fest und wollte sie nicht mehr loslassen. Der saubere Geruch von Ivory-Seife und Babyshampoo umgab sie; ihr Atem trug den Geruch von Milch und das Getreidearoma von Cheerios in sich. Er hatte noch nie etwas Süßeres, Besseres gerochen. Ihr Rücken fühlte sich beängstigend schmal unter seiner Handfläche an. Sie war so zierlich, er konnte das Klopfen ihres kleinen Herzens sowohl durch die Brust – die sie an ihn drückte – wie auch durch Schulterblätter und Wirbelsäule spüren, auf denen er die Hand liegen hatte. Die schreckliche Gewißheit überkam ihn, daß etwas Furchtbares geschehen und er sie nie Wiedersehen würde, wenn er es zuließ, daß sie aus dem Haus ging.
    Er mußte sie selbstverständlich gehen lassen – oder sein Zögern erklären, was er nicht konnte.
    Liebling, weißt du, das Problem ist, etwas stimmt nicht in Daddys Kopf, darum habe ich immer so schreckliche Gedanken, als würde ich dich und Charlotte und Mommy verlieren. Ich weiß, es wird nichts passieren, wirklich nicht, weil das Problem nur in meinem Kopf existiert, wie ein großer Tumor oder so etwas. Kannst du »Tumor« buchstabieren? Weißt du, was das ist? Nun, ich werde einen Arzt aufsuchen und ihn heraus schneiden lassen, einfach herausschneiden, den bösen alten Tumor, und dann werde ich nicht mehr ohne Grund so ängstlich sein …
    Er wagte nicht, so etwas zu sagen. Er würde ihr nur angst machen.
    Er gab ihr einen Kuß auf die weiche, warme Wange und ließ sie gehen.
    An der Tür zur Garage blieb sie stehen und sah sich noch einmal um. »Liest du heute abend wieder das Gedicht?«
    »Worauf du dich verlassen kannst.«
    Sie sagte: »Rentierbraten …«
    »… Rentierfilet …«
    »… Rentiersuppe …«
    »… und Rentierpaté«, sagte Marty.
    »Weißt du was, Daddy?«
    »Was?«
    »Du bist sooooo albern.«
    Emily ging kichernd in die Garage. Das Klawumm der Autotür, die hinter ihr ins Schloß fiel, war das endgültigste Geräusch, das Marty je gehört hatte.
    Er sah die Tür an und mußte sich zwingen, nicht hinzulaufen und sie aufzureißen und sie anzuschreien, sie sollten da bleiben.
    Er hörte, wie das große Garagentor nach oben rollte.
    Der Automotor ertönte, keuchte, sprang an und wurde hochgejagt, als Paige auf das Gas trat, bevor sie den Rückwärts gang einlegte.
    Marty hastete aus der Küche durch das Eßzimmer ins Wohnzimmer. Er ging zu einem der Fenster nach vorne, von dem er die Einfahrt sehen konnte. Die Holzläden waren vom Fenster zurückgeklappt, daher blieb er ein paar Schritte vom Glas entfernt stehen.
    Der weiße BMW fuhr rückwärts aus der Einfahrt, aus dem Schatten des Hauses in den Novembersonnenschein. Emily saß vorne bei ihrer Mutter, Charlotte auf dem Rücksitz.
    Als der Wagen die Allee entlangfuhr und verschwand, trat Marty so dicht an das Fenster, daß er die Stirn an das kalte Glas drückte. Er versuchte, seine Familie so lange es ging im Blickfeld zu behalten, als könnten sie alles überleben – selbst Flugzeugabstürze und Atombombenexplosionen –, wenn er sie nur nicht aus den Augen ließ.
    Den letzten Blick auf den BMW warf er durch einen plötzlichen Schleier heißer Tränen, die er kaum unterdrücken konnte. Die starke emotionale Reaktion

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