Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
Balustrade, die noch dort verstreut waren.
    Marty dachte erschrocken an die Möglichkeit, daß Paige und die Mädchen von dem Anderen auf der Straße angegriffen worden sein könnten, ehe sie das Haus der Delorios erreichen konnten, daher hastete er zur Eingangstür. Diese war verschlossen. Von innen. Die Sicherheitskette vorgelegt. Auf diesem Weg hatte der Irre das Haus nicht verlassen.
    Er hatte es überhaupt nicht verlassen. Wie hätte er das gekonnt, in seinem Zustand? Keine Panik. Bleib ruhig. Denk nach.
    Marty hätte ein Jahr seines Lebens gewettet, daß die Verletzungen des Anderen echt gewesen waren, nicht vorgetäuscht. Der Rücken des Mistkerls war gebrochen. Sein Unvermögen, mehr als den Kopf und die Finger einer Hand zu bewegen, deutete darauf hin, daß wahrscheinlich auch die Wirbelsäule durchtrennt worden war, als die Schwerkraft zum Tanz mit dem Boden aufgefordert hatte.
    Also wo steckte er?
    Nicht oben. Selbst wenn seine Wirbelsäule nicht verletzt gewesen wäre, selbst wenn er keine Querschnittslähmung davongetragen hätte, hätte er seinen zerschundenen Körper in der kurzen Zeit, die Marty in der Küche verbracht hatte, unmöglich in den ersten Stock hinaufschleppen können.
    Gegenüber dem Eingang zum Wohnzimmer lag eine kleine Kammer neben dem Arbeitszimmer. Das spülwassergraue Licht der sturmgepeitschten Dämmerung fiel zwischen den schrägen Streben der Fensterläden herein, beleuchtete aber nichts. Marty trat durch die Tür und schaltete das Licht ein.
    Die Kammer war verlassen. Am Schrank schob er die Spiegeltür auf, aber auch dort versteckte sich der Andere nicht. Schrank in der Diele. Nichts. Bügelzimmer. Nichts. Der tiefe Schrank unter der Treppe. Waschküche. Salon. Nichts, nichts, nichts.
    Marty suchte panisch, unablässig, ohne an seine Sicherheit zu denken. Er ging davon aus, daß er seinen potentiellen Mörder in der Nähe und weitgehend hilflos finden würde, möglicherweise sogar tot, da der klägliche Fluchtversuch seine letzten Kraftreserven verbraucht hatte.
    Statt dessen mußte er in der Küche feststellen, daß die Tür zur Pergola offen stand. Eine kalte Windböe wehte von draußen herein und klapperte mit den Schranktüren. An der Garderobe neben der Garagentür bauschte sich Paiges Regenmantel von falschem Leben erfüllt.
    Während Marty durch Eßzimmer und Wohnzimmer in die Diele zurückgegangen war, hatte sich der Andere auf einem anderen Weg in die Küche begeben. Er mußte durch den kurzen Flur gegangen sein, der von der Diele am Bügelzimmer und der Waschküche vorbeiführte, und dann durch ein Ende des Salons. Er konnte nicht so schnell so weit gekrochen sein. Er war auf den Füßen gewesen, möglicherweise unsicher, aber trotzdem auf den Füßen.
    Nein. Das war unmöglich. Okay. Vielleicht war die Wirbelsäule des Kerls doch nicht gebrochen. Vielleicht nicht einmal angebrochen. Aber sein Rücken mußte gebrochen sein. Er konnte nicht einfach auf die Füße gesprungen und geflohen sein.
    Der Alptraum im Wachsein hatte die Wirklichkeit wieder verdrängt. Es wurde Zeit, wieder nach etwas zu jagen – und von etwas gejagt zu werden –, das die regenerativen Fähigkeiten eines Monsters aus einem Traum besaß; etwas, das behauptete, es sei gekommen, um nach einem Leben zu suchen, und das beängstigend gut ausgestattet schien, es auch zu nehmen.
    Marty ging durch die offene Tür auf die Veranda hinaus.
    Wieder auflebende Angst beförderte ihn in einen Zustand gesteigerter Wahrnehmung, in dem Farben leuchtender, Gerüche stechender und Geräusche klarer und deutlicher als jemals vorher waren. Der Eindruck hatte Ähnlichkeit mit den unerklärlich lebhaften Empfindungen gewisser Träume der Kindheit und Pubertät – besonders mit solchen, in denen der Träumende mühelos wie ein Vogel am Himmel dahinzieht oder die sexuelle Vereinigung mit einer so wunderbaren Frau erlebt, daß er sich später weder an ihr Gesicht noch an ihren Körper erinnern kann, nur an die essentielle Ausstrahlung perfekter Schönheit. Diese besonderen Träume schienen überhaupt keine Phantasiegebilde zu sein, sondern Blicke in eine größere und detailliertere Realität jenseits der Realität der Welt des Wachseins. Als Marty zur Küchentür hinausging, vom warmen Haus in das kalte Reich der Natur, fühlte er sich seltsam an die Lebhaftigkeit dieser längst vergessenen Visionen erinnert, denn jetzt verspürte er ähnlich akute Empfindungen und nahm die Nuancen von allem wahr, das er

Weitere Kostenlose Bücher