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Die zweite Haut

Die zweite Haut

Titel: Die zweite Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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selbst – in einer völligen Unterwerfungshaltung, während er von Repräsentanten der Autorität mit großem Argwohn betrachtet wurde – schien unterschwellige Schuldgefühle an den Tag zu bringen, eine angeborene Anwandlung von Schuld wegen einer monströsen Missetat, die nicht eindeutig identifiziert werden konnte, Schamgefühle, weil man ihm auf die Schliche kommen würde, obwohl er wußte , daß ihn keine Schuld traf.
    »Wie alt ist das Bild in Ihrem Führerschein?« fragte der Polizist mit seiner Brieftasche.
    »Äh, ich weiß nicht, zwei Jahre, drei.«
    »Sieht Ihnen nicht besonders ähnlich.«
    »Sie wissen ja, wie Automatenpaßbilder aussehen«, sagte Marty und stellte verdrossen fest, daß er mehr Flehen als Zorn aus seiner Stimme heraushörte.
    »Lassen Sie ihn aufstehen, es ist alles in Ordnung, er ist mein Mann, Marty Stillwater«, rief Paige, die offenbar vom Haus der Delorios zu ihnen gelaufen kam.
    Marty konnte sie nicht sehen, aber ihre Stimme machte ihn glücklich und stellte wieder ein gewisses Maß an Realität in diesem alptraumhaften Augenblick her.
    Er sagte sich, daß alles gut werden würde. Die Polizisten würden ihren Fehler einsehen, ihn aufstehen lassen, das Gestrüpp um das Haus herum und die Nachbargärten durchsuchen, den Doppelgänger rasch entdecken und eine Erklärung für die unheimlichen Ereignisse der vergangenen Stunde finden.
    »Er ist mein Mann«, wiederholte Paige jetzt viel näher, und Marty konnte spüren, wie die Polizisten sie anstarrten, als sie näher kam.
    Er war mit einer attraktiven Frau gesegnet, die anzuschauen sich auch dann lohnte, wenn sie tropfnaß und ängstlich war; sie war nicht nur attraktiv, sondern klug, charmant, liebevoll, einmalig. Seine Töchter waren prachtvolle Kinder. Er hatte eine erfolgreiche Laufbahn als Romanautor vor sich, und seine Arbeit machte ihm großen Spaß. Nichts würde daran etwas ändern. Nichts.
    Doch während die Polizisten seine Handschellen lösten und ihm auf die Füße halfen, während Paige ihn drückte und er sie dankbar umarmte, war sich Marty akut und nervös bewußt, daß die Dämmerung in die Nacht überging. Er sah über ihre Schulter, suchte an zahllosen dunklen Stellen der Straße und fragte sich, aus welchem Nest der Dunkelheit der nächste Angriff erfolgen würde. Der Regen schien so kalt zu sein, daß es sich um Graupelschauer handeln konnte, die Blinklichter taten ihm in den Augen weh, sein Hals brannte, als hätte er mit Säure gegurgelt, sein Körper schmerzte nach dem Kampf an unzähligen Stellen, und sein Instinkt verriet ihm, daß das Schlimmste erst noch bevorstand.
    Nein.
    Nein, das war nicht sein Instinkt. Nur seine überaktive Phantasie. Der Fluch der schriftstellerischen Phantasie. Immer auf der Suche nach der nächsten unerwarteten Wendung der Handlung.
    Das Leben war keine fiktive Geschichte. Echte Geschichten hatten keinen zweiten oder dritten Akt, keinen sorgfältigen Aufbau, kein Erzähltempo, keine eskalierenden Verwicklungen. Verrückte Dinge passierten eben manchmal, ohne die Logik von Dichtung, und dann ging das Leben weiter wie gewohnt.
    Die Polizisten sahen alle zu, wie er Paige umarmte.
    Er glaubte, Feindseligkeit in ihren Gesichtern zu lesen.
    Eine weitere Sirene ertönte in der Ferne.
    Ihm war so kalt.

DREI

    26
    Die Nacht von Oklahoma erfüllte Drew Oslett mit Unbehagen. Meile für Meile war die Dunkelheit auf beiden Seiten des Interstate Highway, mit seltenen Ausnahmen, so undurchdringlich und unerbittlich, daß ihm schien, als würde er eine Brücke über einen breiten und bodenlosen Abgrund überqueren. Tausende Sterne sprenkelten den Himmel und deuteten eine immense Weite an, über die er lieber nicht nachdenken wollte.
    Er war ein Stadtmensch, seine Seele im Einklang mit dem Großstadttrubel. Breite Straßen zwischen hohen Gebäuden waren die größten freien Flächen, auf denen er sich noch wohl fühlte. Er hatte viele Jahre in New York gelebt, aber nie den Central Park besucht; diese Felder und Täler waren von der Stadt umgeben, und doch fand Oslett sie so weiträumig und offen, daß sie ihn mit Nervosität erfüllten. Nur in den schützenden Wäldern von Wolkenkratzern war er in seinem Element, wo es auf den Bürgersteigen von Menschen wimmelte und sich lärmender Verkehr auf den Straßen staute. In seinem Apartment im Zentrum von Manhattan schlief er bei offenen Fenstern, damit das Licht der Metropole in sein Zimmer dringen konnte. Wenn er in der Nacht aufwachte, wurde er vom

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