Die zweite Kreuzigung
waren. Sie hatten sich etwa drei Kilometer von ihrer ursprünglichen Route entfernt, mussten sich damit aber Ain Suleiman weiter genähert haben. Ihr allererstes Ziel war es jedoch, Sarah zu finden.
»Lassen Sie uns auf diese Düne steigen«, sagte Ethan zu Gavril. »Nehmen Sie die Ferngläser mit. Vielleicht können wir etwas sehen.«
Es war die schwerste körperliche Anstrengung, die die beiden je auf sich genommen hatten. Der durchnässte Sand machte das Gehen extrem schwer. Man konnte leicht ausgleiten. Jeder Meter war eine Eroberung, die gemacht und gehalten werden musste. Die Düne war etwa 150 Meter hoch. Bereits auf halbem Wege hatten beide den Eindruck,dass jeder weitere Schritt ihr letzter sein könnte. Sie legten eine Pause von zehn Minuten ein und gingen dann weiter. Sie mussten sie mehrfach wiederholen. Oben ließen sie sich zu Boden fallen, um sich von der Strapaze zu erholen. Ethan war als Erster wieder hoch und suchte mit dem Fernglas die Gegend ab. Im Westen machte er sofort den Palmenkranz aus, der die Quelle von Ain Suleiman umgab, dann auch die Wasserfläche, die bläulich durch die Baumstämme schimmerte.
Je länger der Tag sich hinzog, desto unruhiger wurde Sarah. Ganz allein auf sich gestellt, wurde sie wieder von ihren Ängsten heimgesucht. Sie fürchtete die Sonne, die Wüste, die Austrocknung. Vor allem aber fürchtete sie Egon Aehrenthal. Sie spürte, dass er in der Nähe war, denn sie mussten schon in der Gegend von Ain Suleiman sein, wo er bestimmt bereits angekommen war. Hinter jeder Düne konnte sie auf ihn treffen.
Der Tag verging, und die Nacht kam. Nun waren Mond und Sterne ihre einzige Gesellschaft. Ohne Bewölkung wurde es in der Wüste bitterkalt. Der Mond zog durch das Sternenmeer wie eine unförmige Kalkscheibe. Als sie an den Füßen zu frieren begann, wünschte sie die Sonne zurück, wie sehr sie sie auch verbrennen und ihren Durst steigern würde. Die Sterne waren nicht wie zu Hause in England, dachte sie bei sich. Zum einen verwirrte sie, so viele auf einmal, eine solche Fülle von Licht zu sehen. Sie kannte ihre Namen nicht, und nur wenige Sternbilder waren ihr vertraut – der Große Wagen oder Orion mit seinem Gürtel. Sie waren die einsamsten Kreaturen der Schöpfung, und die am weitesten entfernten. Wenn man sie betrachtete, kam man selbst ins Schwimmen. Auf den Dünen glaubteSarah Geister zu sehen, aber wenn sie die von den Sternen geblendeten Augen auf sie richtete, verschwammen sie, und sie war wieder allein im Sand, frierend, verloren und ständig den Tränen nah.
Schließlich musste sie doch eingenickt und in tiefen Schlaf gefallen sein, denn als sie die Augen wieder öffnete, stand die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel, und es wurde erneut heiß.
Es schien über ihre Kräfte zu gehen, eine weitere Düne zu erklimmen, aber sie wusste, dass sie es tun musste, wenn sie auch nur eine kleine Chance haben wollte, die Expedition oder Ain Suleiman zu finden. Sie quälte sich hoch und sah eine passende Düne in etwa zweihundert Metern Entfernung. Sie war nicht sehr hoch, aber sie glaubte, mehr könne sie nicht bewältigen.
Während sie sich hinaufquälte, verlor sie den Dünenkamm aus den Augen. Sie bewegte sich nun fast blind, nur noch darauf konzentriert, einen Fuß in den Sand zu krallen und danach wieder herauszuziehen. Plötzlich trat sie mit dem linken Fuß ins Leere und strauchelte. Hätte sich dabei nicht ihr rechtes Bein so merkwürdig mit dem linken verknotet, was sie instinktiv mit den Armen um sich schlagen ließ, dann wäre sie wohl auf der anderen Seite hinuntergerollt und erst ganz unten am Boden zum Stillstand gekommen, ohne die Kraft zu haben, den Aufstieg noch einmal zu wagen.
Mehr durch Glück als eigenes Verdienst blieb sie kaum einen Meter unterhalb des Dünenkammes liegen. Sie brauchte mehrere Minuten, um wieder zu sich zu kommen und das Schwindelgefühl zu vertreiben. Dann schaute sie, mit den Augen blinzelnd, nach unten.
Zuerst konnte sie gar nicht erkennen, was da vor ihr lag.Nur Sand, dachte sie, nur verfluchter Sand. Sie kniff die Augen zusammen und schaute noch einmal hin. Nein, sie hatte sich geirrt, da war etwas. Aber es lag zu weit weg, um es klar zu erkennen, und verschwamm im Dunst.
Als sie etwa dreißig Meter hinabgeglitten war, wurde aus dem verschwommenen Fleck ein Jeep, und aus den zwei kleineren wurden Männer, deren Identität sie allerdings nicht ausmachen konnte.
»Hier bin ich!«, wollte sie rufen, brachte aber
Weitere Kostenlose Bücher