Die zweite Kreuzigung
keinen Ton heraus. Da ließ sie sich auf den Rücken fallen und einfach nach unten rutschen, wie sie es als Kind mit dem Schlitten getan hatte. Euphorie, ja, Ekstase, erfüllte sie. Gerettet zu werden, zu wissen, dass sie Ethan wiedersehen würde und den wertvollsten Altertümern der Welt nahe war, deren Entdeckung ihr ein neues Leben versprach. All das ging ihr in diesen Sekunden durch den Kopf, während sie bis zum Fuß der Düne glitt.
Unten rappelte sie sich auf, ein breites Lächeln auf den gesprungenen Lippen im geröteten Gesicht. Ein glückliches Schulmädchen in den Weihnachtsferien, das seine Eltern und Freunde wiedergefunden hatte.
Als sie sich den Sand aus den Augen gerieben hatte und den Jeep genauer ansah, blieb ihr fast das Herz stehen. Die beiden Männer kannte sie nicht. Der eine war ein Araber, und der andere trug eine Uniform, die sie noch nie gesehen hatte. Während sie noch schaute, ging eine Autotür auf, und ein Mann stieg aus. Alle Hoffnung war dahin. Den kannte sie. Das war das Ende ihrer Welt. Er bedeutete, dass alles über ihr zusammenstürzte. Dass sie wieder in der Hölle war. Er sprach sie an, und seine Stimme drang nur als Echo durch die Massen von Sand zu ihr, als sei er überall – der König der Geister, der endlich Gestalt angenommenhatte, oder der Teufel selbst, der in einer schwarzen Uniform über die Erde gekommen war. Sie suchte nach etwas, um sich festzuhalten, fand aber nichts und stürzte zu Boden, während sich alles um sie drehte und ihr schwarz vor Augen wurde.
Ethan setzte sich immer wieder selbst ans Steuer. Sein Herz schlug heftig, seit sie entdeckt hatten, dass Sarah nicht bei ihnen war. Nur wenn er das Steuer fest umklammerte und mit den Füßen auf das Pedal trat, löste sich seine innere Spannung ein wenig. Er kam sich vor, als rolle er über den Mars, eine Landschaft, die zu einem toten Planeten gehörte.
Sie waren bereits mehrere Kilometer gefahren, als Gavril Ethan ein Zeichen zum Halten gab.
»Es ist an der Zeit, dass einer von uns noch einmal nach oben steigt und sich umsieht. Sie kann hinter der nächsten Düne sein, und wir fahren an ihr vorbei.«
Ethan wollte das selber tun. Als er oben war und noch nach Atem rang, durchbrach ein einzelner Schuss die große Stille. Der Schall schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen. Ein einzelner Schuss aus einer Pistole, der weit weg und zugleich ganz nahe schien. Wieder ein Mensch getötet. Ethan knickten die Beine ein. Angst packte ihn ohne Erbarmen. Und wieder Stille ringsum.
NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL
König Salomos Quelle
Aehrenthals Hauptvorteil, von dem er nichts ahnte, war sein Führer Mohamed. Anders als Ayyub, der die Wüste nur so weit kannte, wie die ihm anvertrauten Touristen sich bisher vorgewagt hatten, was nicht viel bedeutete, war Mohamed ein echter Tuareg. Die Wüste mit ihren Strukturen, ihren Labyrinthen, ihren Zeichen und Entdeckungen, ihren Mysterien und dunklen Geheimnissen lag ihm im Blut. Die Tuareg wussten alles und sagten wenig. Mohameds Kenntnis der Wüste war nicht nur das Ergebnis seines eigenen Lebens oder das Erbe seines Vaters und Großvaters, sondern jenes von Generationen verhüllter Männer, die stets am Rande des Überlebens existiert hatten, die mit diesem Sandmeer so vertraut waren wie Seeleute mit dem Ozean, Bauern mit dem Boden oder Soldaten mit Blut.
Zwar hatte Mohamed bereits mit vielen Ausländern zu tun gehabt, im Grunde kannte er sie aber nicht. Als Aehrenthal ihm erklärte, die Frau, die sie gefesselt und in ihrem Jeep mitgenommen hatten, sei eine seiner Ehefrauen, die eine andere Expedition geraubt habe, glaubte ihm Mohamed und billigte sein hartes Durchgreifen gegen sie, bis er sich von ihrer Verworfenheit überzeugt hatte. Wenn Aehrenthal sie töten wollte, würde ihm Mohamed einen Kopfschuss empfehlen, denn Steine waren in diesem Teil der Wüste selten und Kugeln eine teure Sache. Ein Schnitt durch ihre Kehle würde es auch tun, wäre aber eine wesentlich schmutzigere Angelegenheit.
Auf ihren eigenen Spuren fanden sie bald wieder zumRest ihrer Gruppe zurück. Auf Aehrenthals Befehl waren sie in Funkverbindung geblieben und konnten so einander die jeweilige Position über die Dünen hinweg mitteilen.
Aehrenthal hatte Hunger und Durst. Er zerrte Sarah aus seinem Jeep und stieß sie in den langen Schatten einer Düne. Die anderen folgten ihm. Jemand brachte Wasser. Jetzt, da sie wussten, dass die Oase nicht mehr weit war, konnten sie etwas großzügiger
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