Die zweite Kreuzigung
Knie.
»Auf geht’s!«, sagte Aehrenthal, packte Sarah beim Arm und schob sie wieder in seinen Jeep.
Keiner murrte gegen den Schuss. Keiner deutete an, man sollte Serghei mitnehmen oder Essen und Wasser für ihn zurücklassen. Keiner wagte daran zu denken, wie lange er noch überleben konnte. Die Motoren heulten auf. Sekunden später lag Serghei allein und verlassen in der Wüste und sah zu, wie das Blut aus seinem Bauch rann und im Sand versickerte.
DREISSIGSTES KAPITEL
Maryam
Maryam ult Hana war mit vierzehn Jahren die jüngste von Masud Tegehe-n-Efis’ vier Frauen und auch die hübscheste, mit Brüsten, die nicht welkten, und ihrem schönsten Teil, der ihn festhielt. Mit der Zeit war sie ihm mehr ans Herz gewachsen als seine anderen Frauen, so wie ein junger Mann ein Mehara-Kamel anderen vorzieht oder ein älterer Mann, der genug von Kamelen hat, eine Dattelpalme findet, halb im Schatten, halb in der Sonne, die ihm die süßesten Früchte oder den kühlsten Schatten beschert.
Sie hatte ihm bereits ein Kind geboren, einen Jungen. Und wenn sie mit ihm schlief, dann forderte ihr Schoß geradezu das nächste und das übernächste. Ihr Körper war noch jung und fest, und ihre Brüste wuchsen von Tag zu Tag. Masud liebte es, sie beim Licht einer Öllampe zu entkleiden und sie lange zu betrachten, bevor er zu ihr kam. Er war nicht der junge Mann, den sie sich als Mädchen erhofft hatte, aber er besaß Kamele und hatte bereits erwachsene Söhne.
Mit ihrem Baby im Arm machte sie sich auf den Weg zur Heiligen Stadt. Masuds andere Ehefrauen waren bereits vor ihr aufgebrochen, ebenso die Frauen des Dorfes. Ihr jugendliches Alter erlaubte ihr keine Vorrangstellung, auch wenn sie von ihrem Mann bevorzugt wurde und ihm ein gesundes Kind geboren hatte. Sie trug das Kopftuch fest um ihr Haar geschlungen, und auf ihrer Brust ruhte ein Talisman gegen den
tugarehet,
den allgegenwärtigen bösen Blick. Ein Kamel schrie, trompetete mit heiserer Stimme,als kündige es jemandes Kommen an. Das war, als sie einen Laut hörte, der klang wie das Summen einer Mücke. Sie lauschte eine Weile, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Als sie sich umschaute, sah sie, dass die
taklit,
ihre Sklavin, bereits wartete, um sie zur Heiligen Stadt zu begleiten.
Die große Tür dorthin stand offen, und drinnen brannten überall Lampen. Hier feierten die Frauen, die die Hochzeit von Aisha ult Hamid mit ihrem Cousin Agwilal vorbereiteten. Klagende Laute drangen nach draußen. Die künftige Braut befand sich jetzt am heiligsten Ort.
Die Sklavin bahnte Maryam den Weg durch das Gedränge der Frauen und Kinder. Ihr Gatte war in der Oase ein wichtiger Mann, und andere Frauen traten vor ihr zurück. Wenn sie zwischen ihnen hindurchging, fürchtete sie immer den bösen Blick. Sie war kaum eingetreten, als das Wehklagen endete. In der Stille hörte sie wieder dieses merkwürdige Geräusch, als summten irgendwo in der Wüste Fliegen. Kam von dort Böses auf sie zu?, fragte sie sich.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichten Aehrenthal und seine Truppe schließlich Ain Suleiman. Ringsum war alles ruhig, aber irgendwo unter den Bäumen hörte man eine Frau singen. Bald fielen weitere Stimmen ein.
»Sie bereiten eine Hochzeit vor«, sagte Mohamed. »Bald werden die Trommeln schlagen. Jetzt sind erst einmal die Frauen an der Reihe.«
Das Tageslicht wechselte von perlmuttfarben über pink zu rot. Am Himmel blinkten die ersten Sterne. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und als die Sonne sank, zog sie die Welt immer tiefer in die Dunkelheit. In der Oase flackerten Öllampen auf wie Sterne eines anderen Universums.
Das Singen hielt noch eine Weile an, dann verstummten die Stimmen nach und nach. Schweigen senkte sich über die Kammern von Wardabaha.
Draußen war der Mond aufgegangen. Sein weißes Licht ergoss sich über das blaue Wasser des großen Teichs und gab den Palmwedeln silberne Spitzen.
Als die Soldaten der Longinus-Legion den Pfad hinunterstiegen, der sie an den Rand von Ain Suleiman bringen sollte, sahen sie, dass sich vor ihnen dunkle Schatten versammelten. Die Männer der Oase hatten die Jeeps kommen hören. Ein Alter, der an jenem Tag im Krieg noch Kind gewesen war, sagte zu seinem Sohn: »Sie sind zurückgekehrt.«
Die Männer des Stammes der Kel Ajjer standen aufgereiht da und beäugten die Ankömmlinge. Deren Führer Mohamed, bis auf die Augen in blaue und schwarze Tücher gehüllt, ging auf sie zu. Als er die Tuareg erreicht
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