Die zweite Kreuzigung
dem Rhythmus der Wüste noch nicht angepasst und wusste, dass er sich auf sein eigenes Urteil nicht verlassen konnte. Nur Ayyub kannte sich damit aus, aber Ethan vertraute ihm nicht.
Als er aufschaute, sah er, dass sich der Himmel mit Wolken bezog. Sie schienen ihm allesamt grau, nur hier und da zeigte sich ein schwärzerer Fleck, der langsamer dahinzog. Eine leichte Brise erhob sich und wirbelte den feineren Sand auf.
Sarah trat in ihr Zelt. Im zunehmenden Wind straffte sich die Leinwand wie ein Trommelfell. Sie musste an Oxford denken. Die Türme, der Fluss, die Schulgebäude – all das sah sie deutlich vor sich, aber doch wie im Traum. Die Stadt erschien ihr wie die Kulisse für einen alten Film. Die Bilder, die in ihrem Kopf kreisten, waren mit klassischer Musik unterlegt. Dabei schwärmte sie eigentlich für den Soul von Amy Winehouse und den Rock von Joy Division. Hier in der Wüste zerfielen ihre schönsten Erinnerungen zu Sand. Wenn sie sich je nach einer dramatischen Situation gesehnt hatte, dann gab es hier davon im Überfluss.
Lange lag sie in der Dunkelheit wach, geplagt von Gedanken, was der nächste Tag wohl bringen mochte. Sie konnte nicht einschlafen. Da half nichts, als aufzustehen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. Sie zog einen Beutel mit Sachen hervor, die sie in Tripoli für die kalten Nächte in der Wüste erstanden hatte – Wollsocken, einen dicken Benneton-Pullover aus dem
Suk
und darüber eine
Männer- Jelabia,
die Ethan für sie in dem Teil des Marktes besorgt hatte, wo es nur Männerkleidung gab.
Es war kälter als gewöhnlich und auch wesentlich dunkler.Sie ging noch einmal zurück, um ihre Taschenlampe zu holen, und schritt dann ein Stück den Wadi hinunter. Minuten später hatte sie sich vom Grund des Wadis in einen Seitenkanal zwischen zwei Dünen locken lassen, deren Höhe sie nur vermuten konnte. In dem losen Sand zu gehen war gar nicht leicht, aber etwas – das Bedürfnis, sich zu bewegen – zog sie nach oben und fort von den Zelten. Bald taten ihr die Beine weh. Nach all dem Erlebten hatte sie ihre volle Kraft noch nicht wiedergefunden. Zwar glaubte sie, sie könne sich einen Marsch durch die Dünen bereits zumuten, aber in Wirklichkeit waren ihre Muskeln noch nicht so elastisch wie zuvor.
Sie setzte sich nieder, um ein wenig auszuruhen. Niemand vermisste sie, und auf dem Sand zu sitzen war leichter, als darüber zu gehen. Sie gähnte und blickte in den schwarzen Himmel. Dort wirbelten die Wolken durcheinander wie die Wäsche in einem Trockner. Sie musste ihre Augen abwenden, weil ihr von dem Kreisen schwindlig wurde. Wieder gähnte sie, diesmal herzhafter, und zur Überraschung sank ihr der Kopf auf die Brust. Sie riss sich zusammen, um wieder munter zu werden, und wollte, da sie ihren Zweck erreicht hatte, aufstehen und zum Lager zurückgehen. Aber die Beine versagten ihr den Dienst. Es war so angenehm, im Sand zu sitzen, und sie wollte die Pause noch ein paar Minuten hinziehen, bis ihre Beine sich wieder erholt hatten.
Erneut gähnte sie, dann ein zweites und ein drittes Mal. Bald darauf lag sie auf der Seite, war fest eingeschlafen und schnarchte leise.
Später hatte sie keinerlei Erinnerung daran, wie lange sie so gelegen hatte. Es war ein tiefer Schlaf, das wusste sie, und sie hatte Mühe, wieder daraus zu erwachen. Sie wurdevon dem Gefühl geweckt, dass es auf ihren Kopf regnete. Dichter Regen fiel, starker, kalter Regen, der ihr Haar binnen Sekunden durchnässte, ihr in den Kragen, über Brust und Rücken rann. Als sie aufstand, merkte sie, dass beiderseits von ihr Wasser die Düne hinablief. Es war kalt, ihre Kleider sogen sich voll davon und wurden schwer, als wollten sie sie zu Boden ziehen.
Sie tastete um sich, denn sie musste ihre Taschenlampe finden, ohne die sie bis zum Morgenlicht keinen Schritt tun konnte. Sie wusste sofort, was um sie herum vorging. Im Winter konnte es in der Wüste zu heftigen Regenfällen kommen. Sie waren sehr unangenehm, dauerten aber nie lange. In dieser kurzen Zeit konnten sie allerdings tödlich sein, weil sie in Wadis, den ausgetrockneten Flussbetten, eine Springflut erzeugten. Selbst bei dieser Finsternis sah sie, wie Wasser von den Hängen der Dünen über den Sand zu den tiefsten Punkten stürzte.
Sie kämpfte die aufkommende Panik nieder, schaltete die Taschenlampe ein und suchte den Weg zurück. Aber um sie herum war alles verändert. Sie fand einen Kanal, der abwärts führte. Das kalte Wasser umflutete sie, war
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