Die zweite Kreuzigung
hatte, trat er vor einen Mann mit hoher Kopfbedeckung, in dem er den Anführer der Imashaghen erkannte.
»Al-salam alaykum«
, sagte er. »
Oy ik
.«
Der Angesprochene murmelte eine Antwort.
»
Alkher ghas
.«
»Mani eghiwan?«
Dieselbe Antwort.
»Mani echeghel?«
Wieder dieselbe Antwort. Mohamed wandte sich Aehrenthal zu.
»Ich habe ihn nach seinem Befinden, nach dem seiner Familie und nach seiner Arbeit gefragt. Alles ist gut.«
»Das freut mich zu hören. Sage ihm jetzt, dass wir gekommen sind, um die Heilige Stadt zu sehen.«
Der Chef der Oase, ein Mann namens Idris agg Yusufagg Yaqub Iskakghan, sah erst Mohamed, dann Aehrenthal an. Beim Licht des Mondes trat Aehrenthals Profil scharf hervor. Ein Blick genügte, und Idris wusste, was er wissen wollte.
»Sind Sie Briten?«, fragte er.
Aehrenthal zögerte. Was konnte dieser Mann der Wüste über England wissen? Er war viel zu jung, um bereits die Usherwood-Expedition erlebt zu haben.
»Wenn Sie Briten sind, dann seien Sie uns willkommen. Britische Soldaten kamen hierher, als mein Großvater Yaqub noch ein kleiner Junge war. Er lag im Sterben, und sie haben ihn gerettet. Unter ihnen war ein Arzt. Wissen Sie, ob er noch lebt?«
Aehrenthal nickte und ließ Mohamed sagen, sein Vater habe den Arzt gekannt.
Im Mondlicht war nicht zu erkennen, ob Idris lächelte. Dann nahm er wieder das Wort.
»Heute Abend können Sie nicht dorthin gehen. Wir haben morgen eine Hochzeit. Die Frauen bereiten sie dort vor.«
Darauf sagte Aehrenthal nichts. Er wusste, dass Usherwood und seine Freunde hier noch herumgeisterten. Er brauchte Zeit, um die Räume der Heiligen Stadt mit Sarah Usherwood anzusehen, wenn sie sich dazu bereit fand. Aber vielleicht würde der Bezug auf ihren Urgroßvater sie ja dazu bewegen.
So bat er um etwas zu essen, und eine Stunde später saß er mit seinen Männern bereits bei einem Mahl, das die Sklavinnen zubereitet hatten. Während sie aßen, setzte der Gesang wieder ein. Die Tuareg beobachteten sie scharf, verwirrt über die kleinen Werkzeuge, die die Weißen »Löffel« nannten und von ihren Fahrzeugen geholt hatten. Mit denGästen gemeinsam aßen sie nicht. Der Anislem, ein Nachfahre des Priesters, der Mordpläne gegen Gerald Usherwood und dessen Männer geschmiedet hatte, schrieb eifrig Talismane mit dem sechszackigen Stern und feinen Tifinagh-Lettern darauf, so alt wie die Felsen ringsum.
Sie aßen im Freien, um ein Feuer am Boden sitzend. Das hatte man als Zeichen des Respekts vor den Gästen entzündet. Es würde nicht lange brennen, denn Holz war in der Wüste eine rare Kostbarkeit. Über ihnen knüpften die Sterne am Himmel ihr Netz von Licht.
Aehrenthal legte den Löffel beiseite. Die Ziege war zäh, die Suppe dünn und der Wein klares Wasser aus Salomos Quelle gewesen. Seine Männer hatten über das Essen gemäkelt, einige mit deutlichen Worten und Gesten. Spannung lag in der Luft. Aehrenthal wurde langsam ungeduldig. Er wusste, dass jemand ihm gefolgt war, und Sarah Usherwoods Anwesenheit sagte ihm auch, um wen es sich handelte. Er wollte wieder von Ain Suleiman fort sein, bevor Usherwood mit Verstärkung hier anrücken konnte. Es war dunkel, und in der Heiligen Stadt würde es noch dunkler sein. Aber sie hatten genügend Taschenlampen und Leuchten dabei, die von der Lichtmaschine eines Jeeps mit Strom versorgt werden konnten.
Er stand auf und trat an Idris agg Yusuf und dessen Leute heran. Der Chef hatte die untere Hälfte seines Gesichtsschleiers etwas gelüftet, um zu essen. Ein schmales Kinn und ein dichter Schnurrbart kamen zum Vorschein. Er wirkte alt, aber Aehrenthal vermutete, dass er höchstens dreißig sein konnte. Das Leben in der Wüste sei unglaublich hart, hatte Mohamed ihm erklärt, und niemand lebte sehr lange außer dem Anislem, der ein bequemeres Leben führte als die anderen.
Aehrenthal sprach zu Mohamed.
»Sage ihm, dass wir für das Essen danken. Aber wir haben wenig Zeit. Wir sind gekommen, um die Stadt Wardabaha zu sehen, und meine Männer werden langsam ungeduldig. Wir möchten, dass man uns noch heute Abend dorthin führt.«
Es folgte ein kurzer Wortwechsel. Dann wandte sich Mohamed wieder an Aehrenthal.
»Er sagt, dass er bei allem Respekt den Frauen nicht befehlen kann, die Feier abzubrechen. Er bittet Sie um Geduld. Nichts von dort verschwindet, es bleibt alles, wie es ist. Warten Sie bitte bis zum Morgen. Dann sind die Frauen fort.«
Da rastete etwas in Aehrenthal aus. So viele Jahre hatte er
Weitere Kostenlose Bücher