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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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auf diesen Augenblick, auf diese Entdeckung gewartet. Endlich war er an dem Ort angekommen, den er lange Zeit für eine Legende oder eine Fata Morgana gehalten hatte. Er war gekommen wie ein weiser Mann aus dem Osten, ein Barbar voller Ehrfurcht vor dem toten König. Aber die einzigen Geschenke, die er mit sich führte, waren Tod und Angst.
    Er schritt in den Kreis der Essenden hinein und baute sich direkt vor dem Chef auf.
    »Ich habe Sie gebeten, uns in die Stadt zu führen. Ich habe nicht erwartet, dass Sie uns hier Scherereien machen.«
    Idris blickte ihn verwundert an.
    »Sag ihm das!«, bellte Aehrenthal. Die Tuareg um ihn herum gerieten in Bewegung. Keiner aß mehr einen Bissen. Die Sklavinnen zogen sich zurück, denn Ärger lag in der Luft.
    Mohamed sprach weiter in höflichem Ton, aber er wusste sich auf schwankendem Grund, denn die Beleidigung war angekommen. Er bemerkte, dass sich bereits einige Leibwächterum Idris scharten, die allesamt den
agedellehouf,
den unteren Teil des Gesichtsschleiers über Nase und Mund gezogen hatten. Das bedeutete, dass das Essen und mit ihm die Gastfreundschaft beendet waren. Dies wiederum galt als Signal für die Gäste, zu gehen. Alles andere würde als Kriegserklärung verstanden werden. Das letzte Mal war vor fünfzig Jahren in Ghadames ein Häuptling der Tuareg auf diese Weise beleidigt worden. Kaum waren die verletzenden Worte gesprochen, da hatte der dem Mann bereits mit seinem Schwert die Kehle durchgeschnitten. Danach war er so schnell zur Seite gesprungen, dass kein Tropfen Blut auf seine Kleidung spritzte.
    Einige der jüngeren Männer hatten die Schwerter schon etwas herausgezogen. Gehärteter Stahl blinkte im Mondlicht auf. Die Älteren bedeuteten ihnen, sie zurückzustecken, aber die Jungen, die ein Recht auf das Ungestüm der Jugend zu haben glaubten, wollten nicht gehorchen. Sie boten der Beleidigung die Stirn, die gegen ihren Anführer geschleudert worden war und damit gegen sie alle.
    Idris rappelte sich hoch. Noch nie in seinem Leben hatte jemand so mit ihm zu sprechen gewagt. Er hielt es für das Beste, wenn die Fremden jetzt gingen. Zu Mohamed sagte er in lautem Ton:
    »Sag ihnen, ich befehle ihnen zu gehen. Führe sie in die Wüste hinaus und verlasse sie dort. Sorge dafür, dass sie nie wieder hier auftauchen. Wenn es getan ist, dann komm zurück und entschuldige dich bei mir.«
    Mohamed stand da, starr vor Schreck. Er hatte inzwischen eine Vorstellung, was von Aehrenthal und dessen Freunden zu halten war. Er wusste, dass sie nicht zurückziehen würden. Er setzte an, um den Tuareg das zu erklären, aber Idris wandte sich bereits zum Gehen.
    Einem von Aehrenthals Leibwächtern riss die Geduld. Er sprang auf Idris zu und wollte nach dessen Schulter greifen, um ihn herumzureißen. Aber bevor er auch nur in dessen Nähe kam, waren bereits zwei Männer mit Schwertern zur Stelle. Einer schlitzte ihm den Leib von der Leistengegend bis zum Brustbein auf, und der andere schnitt ihm von hinten die Kehle durch. Der Mann fiel zu Boden wie ein geschlachtetes Tier.
    Da erklangen zwei Schüsse, und Idris’ Verteidiger sanken leblos neben ihrem Opfer zu Boden. Nun setzte ein wahres Massaker ein. Die Neonazis waren mit Maschinenpistolen bewaffnet, russischen Bisons mit 9 x 19 mm Luger-Parabellum Munition. Als sie sahen, auf welche Weise ihr Kamerad niedergemacht wurde, erwachten ihre Urängste vor Menschen mit dunkler Hautfarbe.
    Ein Österreicher namens Helmut Kiesl sah bei Nacht wie eine Katze. Er hob seine Bison, entsicherte sie und begann zu feuern. Sekunden später folgten die anderen seinem Beispiel. Nach wenigen Augenblicken lagen die Männer von Ain Suleiman in ihrem Blut auf dem kalten Boden. Unter ihnen war Idris, von mehreren Kugeln durchlöchert. Dann schwiegen die Waffen, und das Massaker blieb nahezu unbemerkt. Der Mond am Himmel zog weiter und die Sterne blinkten, aber kein Komet stürzte herab.
    Sie ließen ihre Opfer liegen, wo sie waren. Aehrenthal befahl mehreren Männern, nachzuschauen, ob es in der Oase weitere Tuareg gab, die nicht bei dem Essen gewesen waren. Die Übrigen gingen dem Gesang der Frauen nach. Der war anfangs nur schwach zu hören, wurde aber immer lauter, als sie durch die Dünen in die Wüste stolperten, die die Oase umgab. Am Ende brachten die Töne sie zu ihrem Herzenswunsch oder zu Egon Aehrenthals Obsession, waswohl auf das Gleiche hinauslief. Er hatte seine Männer seit langem davon zu überzeugen vermocht, dass sie wollten,

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