Die zweite Kreuzigung
sehe ich, dass ich recht hatte. So, lass mich mal einen Moment in Ruhe, damit ich hier weiterkomme.« Sie schwieg eine Weile. »Wo war ich stehengeblieben? Ja, schon als ich ein Teenager war, hat er angefangen, mir von seinen Interessen zu erzählen. Er hat angedeutet, ich könnte ja später vielleicht Sprachen studieren, zum Beispiel Hebräisch, und mich auch mit Archäologie befassen. Er hat mir sogar Reisen ins Heilige Land finanziert. Und einmal hat er mich mitgenommen.«
»Das habe ich nicht gewusst. Darüber hat er nie mit mir gesprochen.«
Sie gab etwas Wein in die Pfanne und dann zwei Kellen von der Hühnerbrühe. Der Reis saugte die Flüssigkeit auf und begann nach einem Risotto auszusehen.
Mit nachdenklichem Gesicht wandte sie sich ihm zu.
»Nie?«
»Nicht mit mir. Vielleicht mit meinem Vater oder anderen Leuten. Aber ich höre das jetzt zum ersten Mal. Ich wusste, dass du Oxford absolviert und dann promoviert hast, aber nicht genau, worum es da ging. Tut mir leid, dass ich nicht neugieriger war. Du musst mich für ziemlich ignorant halten.«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Miene änderte sich, denn ihre Belustigung, ihn etwas begriffsstutzig zu finden, war verflogen, und damit auch jede Spur von Ungeduld,die sie empfunden hatte. Ihr Studium hatte genau vor acht Jahren begonnen. Ein oder zwei Monte zuvor war ihre Tante Abi ermordet worden. Wie hätte er da Zeit oder Interesse finden sollen, sich darum zu kümmern, was eine Nichte tat, die ihm nicht besonders nahestand? Ihre Familien redeten seit Jahren kaum noch miteinander. Ethans Vater hatte sich mit Ethans Bruder James, Sarahs Vater, heftig gestritten, und der Zwist war nie beigelegt worden.
»Du kannst nichts dafür«, sagte sie. »Da war der Familienstreit und dann … was mit Tante Abi passiert ist. Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich zugeben, dass ich damals gar nicht versucht habe, dich zu treffen. Ich war gerade neunzehn und hatte ein bisschen Angst vor dir. Wegen der Sache, die Abi zugestoßen war. Das hat mich tief geängstigt. Ich dachte, da du so darunter zu leiden hattest, wäre ich nicht die richtige Gesellschaft für dich. Von Zeit zu Zeit habe ich von dir gehört und mir gedacht, du müsstest sehr verbittert sein. Ich habe viel Zeit verstreichen lassen. Die sollten wir jetzt nachholen.«
Er nickte, sagte aber nichts. Sarah hatte zweifellos recht. Er war mit der Sache immer noch nicht fertig. Seit Abis Ermordung war sein Leben wie hinter einem Nebelschleier verlaufen. Ein richtiges Leben konnte man es eigentlich nicht nennen. Er hatte die Grundlagen des Umgangs und der Zusammenarbeit mit Menschen neu erlernt, blieb aber die meiste Zeit für sich. Von der Arbeit zog er sich mit etwas Essbarem in seine leere Wohnung zurück, schlief abends meist vor dem Fernseher ein und kämpfte verzweifelt gegen die ständige Versuchung an, seinen Kummer im Schnaps zu ertränken. Für seine Kollegen war er ein Einzelgänger, der zwar etwas von seinem Job verstand, aber für ein Bier am Abend im Pub nicht taugte. Selbst nach acht Jahrenkonnte ihn ohne sichtbaren Anlass eine tiefe Depression befallen und tagelang handlungsunfähig machen. Hier in Woodmancote hatte er zum ersten Mal während all dieser Jahre mit einem anderen Menschen ausführlich gesprochen. Plötzlich und erstaunlicherweise graute ihm vor dem Gedanken, Sarah könnte wieder aus seinem Leben verschwinden.
»Gibt es außer diesen hochgeistigen Dingen«, fuhr er fort, »noch etwas anderes in deinem Leben? Bücher, Musik, Männer?«
»Willst du mich jetzt aushorchen? Das gibt es alles, wenn du es unbedingt wissen willst. Männer – vielleicht nicht allzu viele, wie das so ist …«
»Du müsstest doch an jedem Finger zehn haben.«
Sie runzelte die Brauen.
»Meinst du? Vielleicht. Wahrscheinlich weise ich zu viele ab.«
»Du wirst mir doch nicht erzählen …«
Sie blickte ihn finster an, schüttelte aber den Kopf.
»Nein, nicht, was du denkst. Ich mag Männer. Ich würde schon gerne heiraten und eines Tages Kinder haben. Es ist nur …«
Sie zögerte. Er spürte, dass man sie nicht drängen durfte, dass er warten musste, bis sie von selbst aussprach, was ihr so schwerfiel.
»Als ich mit dem Studium fertig war, hat einer meiner Dozenten mich manchmal ausgeführt. Doktor Gardner, Jeremy Gardner. Wir … kamen uns näher. Zuerst war es nur Sex, aber mit der Zeit wurde eine echte Liebesbeziehung daraus. Er war zehn Jahre älter als ich und verheiratet, allerdings unglücklich.
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