Die zweite Kreuzigung
Das ging über zwei Jahre so, und er sprach ernsthaft davon, sich scheiden zu lassen undmich zu heiraten. Er hatte sogar bereits die Scheidung eingereicht, aber …«
Sie stockte und holte tief Luft.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Ethan, »du musst es mir nicht erzählen.«
Sie schaute ihm direkt ins Gesicht, und er glaubte in ihrem Blick Trauer zu sehen. Als ob sie von Geistern verfolgt würde.
»Ich will es dir ja erzählen. Aber behalte es bitte für dich. In meiner Familie weiß niemand, dass ich überhaupt einen Geliebten hatte, und schon gar nicht … Es ist etwas passiert. Jeremy war Bergsteiger. Ab und an verschwand er für einen Monat oder länger, um Gipfel zu erklimmen, einer höher und schwieriger als der andere. In jenem Jahr nahm sich das Team, dem er angehörte, den Nanga Parbat in Kaschmir vor. Sie hatten den Berg schon zur Hälfte erstiegen, da versagte ein Haken, er stürzte auf einen Felsen und brach sich das Rückgrat. Eine Zeitlang wusste ich gar nichts davon. Er hatte unsere Beziehung streng geheim gehalten. Ich hatte nicht einmal Gelegenheit, an seinem Begräbnis teilzunehmen.«
Sie hielt inne. Während sie sprach, hatte sie die ganze Zeit in dem Reis gerührt. Jetzt gab sie die Garnelen, große rosafarbene Exemplare, hinzu. Der Käse rundete das Gericht ab. Sie rieb ihn in dicke, gelbe Streifen, die sie über den Risotto streute. Als er schmolz, rührte sie ihn sacht unter.
Der Risotto musste noch ziehen. Inzwischen deckte Ethan den Tisch. Er benutzte die Teller, die man für das nicht stattgefundene Festmahl bereitgestellt hatte. Er holte die Flasche Pino Grigio und zwei passende Gläser. Dann zündete er die Kerzen an.
Während er den Tisch vorbereitete, hatte Sarah einenSalatkopf aus dem Kühlschrank geholt und mit italienischem Dressing angerichtet. Sie stellte die große Schüssel mitten auf den Tisch, und Ethan suchte nach einem Salatbesteck. Als der Risotto neben der Salatschüssel stand, war alles fertig.
Beim ersten Löffel war er überwältigt.
»Das schmeckt ja fantastisch. So ein Pech, dass ich dein Onkel bin und du meine Nichte.«
Sie blickte ihn merkwürdig an, als hätte er etwas Unpassendes gesagt. Dann lächelte sie.
»Damit wirst du wohl leben müssen«, ließ sie fallen und ließ sich den Risotto schmecken.
Dabei fragte sie sich, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte. Immerhin waren sie beide erwachsene Menschen. Ihn würde die Nachricht nicht schmerzen, aber ihren Verwandten würde sie sehr peinlich sein, das wusste sie. Ethan war nicht ihr Onkel und sie nicht seine Nichte. Sie waren überhaupt nicht miteinander verwandt. Das wussten nur sie und ihre Mutter. Die hatte ihr auf dem Sterbebett das streng gehütete Geheimnis eröffnet. Sie beschloss, ihm vorerst nichts zu verraten. Was machte es schon, wenn er weiterhin glaubte, sie seien Blutsverwandte? Das dachte schließlich die ganze Familie, und der Gedanke, ihr diese Illusion zu rauben, behagte ihr gar nicht.
Nachdem Sarah beide Teller bereits zum zweiten Mal gefüllt hatte, legte sie plötzlich Gabel und Löffel nieder und schaute Ethan unverwandt an.
»Was passiert eigentlich mit Urgroßvaters Testament? Ich meine jetzt, da die Ermittlungen in diesem Mordfall laufen.«
Er blickte düster drein und legte ebenfalls das Besteck auf den Teller.
»Das weiß ich auch nicht so genau«, sagte er dann. »Das Arbeitszimmer war durchwühlt. Jemand hat beträchtliche Zeit darauf verwendet, nach etwas zu suchen, vielleicht nach Geld, vielleicht nach etwas anderem. Wonach genau, weiß man noch nicht. Wenn das Testament noch dort war, dann ist es jetzt wahrscheinlich in den Händen der Polizei. Wenn nicht, kann es auch der Eindringling mitgenommen haben. Oder die Eindringlinge. Es ist nicht weiter von Bedeutung, zumindest solange die Ermittlungen im Gange sind. Ich glaube nicht, dass sich im Moment jemand sehr dafür interessiert, was er erben wird.«
Sie nahm die Gabel wieder auf und stocherte damit im Essen herum.
»Es war nur …« Sie stockte, als wollte sie ihre Gedanken ordnen. »Ethan, hat er dir gegenüber das Testament jemals erwähnt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich erinnere mich nicht daran. Es hätte mich sicher nicht besonders interessiert. Gerald war in solchen Dingen sehr korrekt. Er hatte gute Anwälte, ich glaube von einer Kanzlei drüben in Gloucester.«
»Markham und Pritchett. Sie haben sich auch um die Angelegenheiten meines Vaters gekümmert.«
Er lächelte.
»Sie sind auch meine Anwälte.
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