Die zweite Kreuzigung
Dachse und Eichhörnchen in ihre Höhlen, standen die Bäume in tiefem Schweigen. Über dem Dorf stieg Rauch auf, wo Truthähne über Holzfeuern brutzelten, Gänse in heißen Ofenröhren brieten, Puddings kochten, Kinder ihre neuen Spielzeuge ausprobierten, dümmliche Shows über Fernsehschirme flimmerten, von einem Schwarm Satellitenzu den Menschen gebracht, die fern und ungerührt die Welt der Weihnacht umkreisten.
Senhora Salgueiro hatte Ethan zu Verwandten geschickt. Sie hatte einen schweren Nervenschock erlitten, und der Landarzt, den man übellaunig von der Weihnachtsfeier geholt hatte, gab ihr ein Fläschchen Beruhigungsmittel, damit sie wieder zu sich kam. Sie war nicht die Einzige, der er an diesem Morgen etwas verschrieben hatte. Sie war zwanzig Jahre lang Geralds Haushälterin gewesen, manche glaubten, eine Zeitlang auch mehr, und sein Tod, besonders, was er hatte erleiden müssen, war ihr sehr zu Herzen gegangen.
Ethan drehte eine letzte Runde über das ganze Gelände. An den Ermittlungen durfte er sich nicht beteiligen, aber Bob Forbes, der sie leitete, hatte ihn gebeten, die Augen offenzuhalten. Er ging in das Gartenhäuschen zurück und wollte sich in die kleine Bibliothek im Erdgeschoss setzen, wo er früher gern gewesen war. Zu seiner Überraschung fand er dort Sarah, die sich mit einem Buch in einem Sessel niedergelassen hatte. In dem kleinen Kamin brannte ein helles Feuer, die Flammen tanzten wie Kobolde und ließen Licht und Schatten über das Gesicht der jungen Frau huschen.
»Ist das Buch gut?«
Sie blickte auf.
»Nicht besonders«, meinte sie. »Ich hab mir einfach eins genommen. Ich wollte irgendetwas lesen. Nach alledem. Ich dachte, ich könnte davon einen klaren Kopf bekommen.«
»Und hat es geholfen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Ihm fiel auf, dass sie seit dem Morgen weder ihr Haar gerichtet noch Make-up aufgelegthatte. Das Lächeln, das ihm so gefiel, war völlig verschwunden.
»Es wird bald dunkel«, setzte er von neuem an. »Wie lange wirst du bis Oxford brauchen? Ehrlich gesagt, ich dachte, du wärst schon weg. Tagsüber hat es eine Menge geschneit. Es wird schwer durchzukommen sein.«
Für einen kurzen Augenblick kehrte das Lächeln zurück.
»Ich fahre noch nicht ab. Ich habe ein bisschen freie Zeit und dachte, ich bleibe hier, solange es nötig ist.«
»Nötig?« Er ließ sich in dem Sessel auf der anderen Seite des Kamins sinken.
»Ethan, bist du vielleicht ein bisschen begriffsstutzig? Du hast beschlossen, in diesem Häuschen zu bleiben, weil du Polizist bist und man dir befehlen kann, hier aufzupassen, dass kein Unbefugter eindringt. Hast du dabei auch einmal an dich gedacht?«
»An mich? Ich habe Urlaub bis …«
»Typisch Mann. ›Ich habe Urlaub.‹ Ich habe dich nicht nach deinem Dienstplan gefragt, sondern nach dir selbst.«
Er griff sich den Schürhaken, stocherte etwas in dem Feuer herum und legte ein paar Scheite nach. Sie zischten und jagten helle Funken in den Schornstein hinauf.
»Mir geht’s gut«, sagte er. »Ich kann mich um das Anwesen kümmern, bis Senhora Salgueiro zurückkommt.«
»Du hast immer noch nicht auf meine Frage geantwortet.« Sie schlug das Buch zu und ließ es zu Boden fallen. »Ohne Senhora Salgueiro bist du hier ganz allein. Du schläfst kaum einen Steinwurf von dem Ort entfernt, wo dein Großvater und sein Freund bestialisch ermordet wurden. Sicher hast du im Leben schon Dutzende Leichen gesehen und bist an solche Dinge gewöhnt, aber du wirktest ziemlich mitgenommen, als du heute Morgen aus jenemZimmer herauskamst. Meinst du, ich glaube dir, dass es dir nichts ausmacht, allein hierzubleiben, dass du nicht herumsitzen und von früh bis abends über die Sache nachgrübeln wirst?«
»Sarah, ich …«
»Ob du dich dem nun aussetzen willst oder nicht, ich werde das nicht zulassen. Für diese Zeit leiste ich dir Gesellschaft. Ich werde deine Haushälterin sein. Ich koche für dich und esse mit dir. Ich rede mit dir, wenn dir danach ist, ich begleite dich beim Spaziergang in der Kälte, lese dir vor, spiele Scrabble mit dir, schaue mir alte Filme im Fernsehen an oder höre Musik mit dir. Die einzigen Dinge, die du nicht von mir erwarten kannst, sind, deine Socken und deine Unterwäsche zu waschen, dir jeden Abend ein Stückchen Schokolade aufs Kissen zu legen oder mit dir zu schlafen. Wir könnten uns ja nach all den Jahren ein bisschen besser kennenlernen. Na, ist das ein Deal?«
Einen Moment schaute er sie verdattert an.
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