Die zweite Kreuzigung
Ich denke, sie arbeiten seit ewigen Zeiten für die ganze Sippe. Nach dem Urlaub melde ich mich bei ihnen. Sie müssten zumindest ein Exemplar des Testaments in ihren Akten haben.«
»Ich habe davon angefangen, Ethan, weil Urgroßvater vor drei Jahren einmal mit mir darüber gesprochen hat. Da habe ich noch an meiner Dissertation gearbeitet. Er meinte, wenn ihm einmal etwas zustoßen sollte, dann sollte ichnach seinem Testament suchen und nach einem weiteren Dokument, das dabei liege, einem Brief an mich. Er hat ihn mir einmal gezeigt, aber das Blatt war zusammengefaltet. Er sagte mir nicht, was in dem Brief steht, aber ich vermute, es hatte nichts mit einem Erbteil zu tun. Es sei sehr wichtig, hat er ausdrücklich betont. Er erklärte, ich solle den Brief an mich nehmen, wenn etwas passiert. Er enthalte gewisse Anweisungen.«
»Anweisungen? Worüber?«
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich komme ich nicht einmal in dem Testament vor. Und wenn, dann sicher ziemlich weit unten in der Hackordnung. Aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl dabei.«
»Ein merkwürdiges Gefühl?«
»Genau. Damals habe ich die Sache nicht allzu ernst genommen. Doch wenn ich es mir jetzt überlege, bin ich mir ziemlich sicher, dass er damals nicht seinen natürlichen Tod gemeint hat. Da war etwas in seinem Verhalten und in seiner Stimme … Als fürchtete er, es könnte ihm etwas Unerwartetes zustoßen. Und … nun ist es ja passiert, nicht wahr? Ich denke, wir sollten nach dem Papier suchen. Und zwar sofort.«
SECHSTES KAPITEL
Die Stimmen der Toten
In der folgenden Stunde tätigte Ethan mehrere Anrufe. Er sprach mit seinem Vater, seinen Onkeln, mit Bob Forbes von der Polizei und mit den Anwälten seines Großvaters. Bei ihnen lag in der Tat eine Kopie des Testaments, aber kein Brief für Sarah. Die Polizei hatte in Geralds Arbeitszimmer weder einen letzten Willen noch einen Brief gefunden.
Ethan teilte Sarah mit, dass der Brief bisher nicht aufgetaucht sei.
»Dann muss er noch hier irgendwo sein«, meinte sie. »Kannst du dir denken, wo?«
Er verneinte.
»Was ist mit der Bibliothek?«, fragte sie.
»Der Bibliothek?«
»Du weißt doch, der Raum, wo so viele Bücher drin sind. An allen Wänden. Auf Regalen.«
»Ach so, der. Das scheint mehr was für dich zu sein als für mich.«
»Genau. Ich muss dort für ein, zwei Stunden rein, Ethan. Schon eine halbe Stunde würde helfen. Ich denke, der Brief ist wichtig. Deine Freunde von der Polizei wissen nicht, wonach sie suchen sollen, ich aber erkenne ihn sofort.«
Sie brauchte eine ganze Stunde, um ihn zu überreden, ihr Zutritt zum Haupthaus zu verschaffen, ihr dabei zu helfen, unter dem schwarzgelben Absperrband durchzukriechen und die Haustür mit seinem Schlüssel aufzuschließen.
»Das ist gegen alle Vorschriften«, erklärte er dabei. Aber sie hatte seine Neugier geweckt. Vielleicht enthielt der Brief ja wirklich etwas von Bedeutung. Solange sie sich vom Arbeitszimmer fernhielten, konnten sie kaum Schaden anrichten. Das Haus war zwei Tage lang voller Leute gewesen, aber die Ermittler hatten sich vor allem auf den unmittelbaren Tatort konzentriert.
Mit einem Stapel Aktenordner fingen sie an. Sie enthielten Zeitschriftenartikel, Zeitungsausschnitte und einige Briefe. Immer wieder musste Ethan Sarah ermahnen, wenn diese auf etwas Interessantes stieß, sich festlas und den Zweck ihrer Suche aus dem Auge verlor. Dann nahmen sie sich zwei hohe Aktenschränke vor. Im ersten lagen Rechnungen über Bücherkäufe, Briefe von Antiquaren und Buchhändlern sowie Korrespondenz mit Verfassern und Verlegern. Als Ethan sie durchblätterte, konnte er nur staunen, mit welchem Nachdruck der Großvater seine Studien betrieben hatte. Der zweite Schrank war mit Ausgrabungsobjekten vollgestopft. Als Sarah erkannte, was für Schätze dort lagen, konnte sie das gar nicht fassen. Ethan musste sie beinahe mit Gewalt fortziehen.
»Sarah, hier ist nichts, was Großvater an dich adressiert hat. Warte ab bis zur Eröffnung des Testaments, vielleicht steht ja dort etwas drin.«
»Unsinn. Du hast doch mit Markham von der Anwaltskanzlei gesprochen, und der wusste nichts von einem Brief. Entweder er liegt noch in seinem Arbeitszimmer oder der Mörder von Urgroßvater und dessen Freund hat ihn mitgenommen. Hat übrigens schon jemand seine Familie benachrichtigt? Ich meine die von Urgroßvaters Freund.«
»Von Max Chippendale? Ja, ich habe Bob Forbes allesgesagt, was ich weiß. Er hat Max’ Koffer und
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