Die zweite Kreuzigung
verschlagen hatte.
»Ich befasse mich mit Architekturgeschichte«, sagte er schließlich. »Im Moment arbeite ich an einem Projekt über Schlösser und Burgen in Transsilvanien.«
»Oh, wie interessant«, entgegnete sie. »Hier gibt es viele davon. Bran, Huniazi – sind sie schon auf Huniazi gewesen? Oder in Sighişoara und auf Peleş. Dann natürlich Mǎrgǎu. Das ist ein tolles Schloss.«
»Da haben Sie recht. Aber faszinierend sind sie alle.«
»Besonders Mǎrgǎu. Das war immer mein Lieblingsschloss.«
»Meines auch. Das schönste in dieser großen Zahl. Aber dahin will ich jetzt nicht. Ich möchte ein Schloss hier in der Nähe besuchen.«
Sie presste die Lippen zusammen, und ihre Augen wurden schmal.
»Tatsächlich? Was für ein Schloss sollte denn das sein? Ich wüsste nicht, welches Sie meinen. Sie haben sich bestimmt verfahren.«
Er schüttelte den Kopf.
»Es heißt Castel Almásy. Vielleicht kennen Sie es ja auch als Castel Lup«, sagte er. »Wolfsschloss. Das ist doch die Bedeutung?«
Bei diesen Worten veränderte sich ihre Miene abrupt. Keine Spur von Freundlichkeit mehr. Sie warf ihr Haar zurück und sprang auf.
»Ilona? Was ist los? Was habe ich denn Schlimmes gesagt?«
»Nichts. Gar nichts. Aber ich muss jetzt gehen.«
Hastig fuhr sie in ihre Jacke.
»Möchten Sie nicht …?«, wollte er sagen, aber sie stand schon an der Tür.
Er nahm einen Schein aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch, hoffend, dass es ausreichen werde. Dann eilte er ihr nach. Sie lief bereits über die Straße. Ihre Jacke leuchtete in dem blassen Licht des Nachmittags. Ethan lief, so schnell er konnte, und stellte sich ihr in den Weg.
»Was ist los, Ilona? Wir haben doch nur miteinander geredet. Da springen Sie auf, wie von der Tarantel gestochen, und laufen weg. Was ist denn passiert?«
Sie blickte ihn zornig an.
»Erst lügen Sie«, stieß sie hervor, »und dann sagen Sie auch noch, dass Sie ausgerechnet zum Castel Lup wollen. Da wundern Sie sich, dass ich weglaufe? Lassen Sie mich jetzt nach Hause gehen. Ich denke, wir haben genug geredet.«
»Ich verlange eine Erklärung. Sie sagen, ich hätte Sie angelogen. Wie kommen Sie darauf?«
»Sie haben behauptet, Sie seien Architekturhistoriker, aber von den Schlössern in Transsilvanien haben Sie keine Ahnung!«
»Natürlich bin ich …«
»In Mărgău gibt es überhaupt kein Schloss. Das habe ich mir ausgedacht, um zu sehen, wie Sie reagieren. Ich hatte erwartet, Sie sagen: ›Davon habe ich noch nie gehört, erzählen Sie mir mehr.‹ Stattdessen haben Sie erklärt, das sei Ihr Lieblingsschloss, das schönste von allen.«
Er war auf ihren einfachen Trick hereingefallen.
»Und Castel Lup?«
»Das brauche ich Ihnen doch nicht zu erklären. Wenn Sie dorthin wollen, dann wissen Sie mehr darüber als ich. Aber mir genügt schon, dass Sie das wollen und wahrscheinlich dort Leute kennen. Gehen Sie mir jetzt endlich aus dem Weg.«
»Ilona, ich will keinen Ärger machen. Aber da sind ein paar Dinge, die sollten Sie wissen.«
»Zum Beispiel?«
»Also – ich bin in der Tat kein Architekturhistoriker, ich bin Polizist.«
Ohne Rücksicht auf das Wetter gingen sie mehrere Male die Straße auf und ab. Er teilte ihr mit, so viel sie ertragen konnte, sprach vom Tod seines Großvaters, von SarahsEntführung, dem Österreicher und dem Begleiter, dessen Name ungarisch klang.
Sie entspannte sich ein wenig. Der Zorn schwand aus ihrem Blick, und Staunen trat an seine Stelle. Als er geendet hatte, gingen sie in das Gasthaus zurück. Die Dorfbewohner machten runde Augen und tuschelten miteinander.
»Warum soll ich Ihnen diese Version nun glauben?«, fragte sie schließlich.
Er zückte seinen Ausweis. Sie betrachtete ihn lange, nickte dann und gab ihn zurück.
»Ich weiß zwar, was ein Detektiv ist«, sagte sie, »aber was ist ein Detective Chief Inspector?«
Er versuchte es ihr zu erklären, verirrte sich aber hoffnungslos im Gewirr der Polizeiränge. Als sie seine Verwirrung bemerkte, lächelte sie zum ersten Mal, seit sie vor ihm weggelaufen war.
»Und Sie glauben, dass diese Frau, wie war doch ihr Name …?«
»Sarah.«
»Also, dass diese Sarah in Vár Farkasnak ist?«
»Wo?«
»So nennen wir Ihr Schloss auf Ungarisch. Das Wolfsschloss. Castel Lup.«
»Ich bin mir nicht sicher. Es ist eine Vermutung. Warum haben Sie sich über diesen Ort so aufgeregt?«
»Keiner weiß viel darüber. Sie nennen es Schloss Almásy, aber es ist lange her, dass es so hieß,
Weitere Kostenlose Bücher