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Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Er glaubte nicht einmal, dass er jemanden finden würde, der Englisch sprach. In dieser Gegend verstehe man nur Ungarisch, hatte es geheißen.
    Er sah keinen Laden, zumindest war nichts als solcher zu erkennen. Einige Häuser hatten Zäune mit hübschen Schnitzarbeiten, besonders an den Toren. Dort gingen Menschen ein und aus, aber niemand trat näher an ihn heran. Er sah zwei Frauen, die ihn musterten und miteinander tuschelten. Sie anzusprechen war vielleicht nicht ratsam.
    Dann erschien aus dem Haus gegenüber eine junge Frau von höchstens achtzehn bis zwanzig, die etwas moderner gekleidet war als die beiden Weiber, die ihn so anstarrten. Sie ging direkt auf ihn zu, lächelte ihn an und blieb kurz vor ihm mitten auf der Straße stehen.
    »Megszentségteleníthetetlenségeskedéseitekér?«,
fragte sie.
    Ethan starrte sie verständnislos an.
    Sie kicherte und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. Dann sagte sie:
»Bészel romanul?«
    Er begriff noch immer nicht, was sie ihm sagen wollte, meinte aber mit dem ersten endlosen Wort auf Ungarisch habe sie ihn wohl necken wollen. Sie war recht hübsch, hatte jedoch ein wenig Bosheit im Blick, die ihre Schönheit gefährlich erscheinen ließ.
    »Sprechen Sie Englisch?«, fragte er schließlich.
    »Na klar«, sagte sie, ohne im geringsten überrascht zu sein. »Das hätte ich als Nächstes probiert, aber zuerst wollte ich wissen, ob Sie Ungarisch oder vielleicht Rumänisch sprechen. Ich spreche auch ein wenig Deutsch und Ukrainisch. Mein Vater hat mir sogar etwas Russisch beigebracht. Sie sahen so verloren aus. Touristen kommen zu dieser Jahreszeit kaum nach Sâncraiu. Es gibt hier Skiwettkämpfe, aber die finden erst in einigen Wochen statt. Sie sind bestimmt kein Tourist.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Und Sie brauchen Hilfe. Haben Sie sich verfahren? Aber hier redet es sich nicht gut. Es ist kalt, und es wird bald noch kälter werden. In vier Stunden ist es dunkel. Gehen wir ins Haus.«

VIERZEHNTES KAPITEL
Ilona
    Sie führte ihn in ein kleines Haus, das dem Dorf als Gasthof, öffentlicher Versammlungsort und Laden für den täglichen Bedarf diente. Auf Regalen sah er Tüten mit Mehl, Flaschen mit Öl, einige Laibe Weißbrot und andere Lebensmittel. Am Tresen standen ein paar unrasierte alte Männer, die Ethan mit wässrigen Augen musterten. Für sie war er einer der Fremden, die sie ertragen mussten, um sich ein wenig ausländisches Geld zu verdienen.
    Das Mädchen hieß ihn an einem Tisch Platz nehmen und holte zwei Glas Rotwein. Dann legte sie die dicke Jacke ab, die sie draußen getragen hatte. In dem Raum war es sehr warm.
    »Wieso sprechen Sie so gut Englisch?«, fragte er.
    »Ich studiere an der Uni in Bukarest. Letztes Semester. Ich habe dort vier Jahre Englisch gelernt. Letztes Jahr war ich in Brighton. Ich bin in den Ferien hier, bis kurz nach Neujahr.«
    Er reichte ihr seine Hand über den Tisch.
    »Ethan«, sagte er. »Mein Name ist Ethan Usherwood.«
    Sie nahm die Hand und drückte sie fest.
    »Horváth Ilona«, sagte sie.
    »Nett, Sie kennenzulernen, Horváth.«
    Sie lachte laut auf.
    »Entschuldigung«, sagte sie dann. »Wie unbedacht von mir. Wir Ungarn nennen zuerst den Familiennamen und dann den Vornamen. Sie können Ilona zu mir sagen.«
    »Was bedeutet das?«
    Nun errötete sie leicht und murmelte etwas, das er nicht verstand.
    »Was haben Sie gesagt?«
    »Der Name ist etwas peinlich, aber sehr beliebt. Er bedeutet ›die Schöne‹. Etwas kindisch. Ohne jede Bedeutung.«
    Er betrachtete sie genauer. Der Name passte durchaus zu ihr. Sie trug schulterlanges, gewelltes braunes Haar, ihre Augen erinnerten ihn an die einer Katze, die er als siebenjähriger Junge besessen hatte, und sie hatte ein bezauberndes Lächeln. Das hübsche Mädchen an seinem Tisch ließ ihn wieder an Sarah denken und daran, dass er in ein, zwei Stunden vielleicht erfahren würde, ob sie noch lebte oder schon tot war.
    Sie tranken Wein und redeten, vor allem über die Pläne, die Ilona für die Zeit nach dem Studium in einem Jahr hatte. Nach Sâncraiu wollte sie um nichts in der Welt zurück, entweder wollte sie in der großen Stadt Bukarest bleiben oder ins Ausland gehen. Da sie fließend Ungarisch und Rumänisch, dazu recht gut Englisch sprach, hoffte sie, sich irgendwo als Übersetzerin oder Dolmetscherin zu etablieren.
    Während sie sich unterhielten, fragte er sich, wie viel er ihr eröffnen durfte. Er konnte ihr kaum erzählen, dass es ihn rein zufällig in diese Gegend

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