Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zweite Kreuzigung

Die zweite Kreuzigung

Titel: Die zweite Kreuzigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
undurchdringlichen Baldachin über ihnen bildeten. Die Lampen an ihren Helmen schnitten enge Tunnel von wenigen Metern in glitzernden Reif und Schnee. Langsam tappten sie vorwärts und unterhielten sich halblaut dabei.
    Ilona erzählte von ihrem Leben in Sâncraiu, von den Veränderungen, die die Übersiedlung nach Bukarest ihr gebracht hatte, von den Horizonten, die sich ihr öffneten, als sie in Brighton lebte, von der Frustration, dass es für sie in Rumänien kaum eine Chance gab, nicht einmal in der Hauptstadt. In vollem Ernst bat sie ihn, ihr dabei behilflich zu sein, ein Visum zu erhalten, um legal nach Großbritannienzu kommen, dort einen Job zu finden, vielleicht zu heiraten und die britische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Sie war ehrgeizig und voller Hoffnung. Ethan konnte ihr vielleicht eine Tür öffnen, damit sie in Erfüllung ging. Er hatte bereits mit der Einwanderungsbehörde zu tun gehabt und fragte sich nun, ob sein Wort dort wohl etwas galt.
    Der Pfad wand sich in engen Kurven immer weiter nach oben. Je höher sie kamen, desto kälter wurde es. Ihr Atem gefror zu kleinen Nebelwölkchen. Das Pferd hielt tapfer Schritt, ohne einen Laut von sich zu geben.
    Er erzählte ihr von Abi, warum, wusste er nicht. Die Erinnerungen überfluteten ihn, und die Worte entströmten ganz von selbst seinem Mund. Ob es an der kalten Luft, dem scharfen Licht der Lampen oder Ilonas Jugend lag, konnte er nicht sagen. Er sprach, und sie hörte schweigend zu. Es war, als hätte das Verhältnis von Bergführerin und Geführtem sie beide zu Lehrerin und Schüler, Ratgeberin und Bittsteller gemacht. Wieder heulten die Wölfe, und er erschauerte bei dem Gedanken, hier einen sinnlosen Tod zu sterben. Was er in dem Schloss vorfinden würde, wollte er sich noch nicht vorstellen. Die tote Sarah? Oder den Tod, der auf ihn wartete? Eine Kugel? Ein scharfes Messer? Einen schweren Gegenstand, der ihm den Schädel zertrümmerte?
    »Dieser Weg führt uns direkt zum Schloss«, sagte Ilona unvermittelt. »Wir lassen das Pferd hier an einem Baum zurück.«
    Vor sich sah er eine Weggabelung.
    »Ich gehe allein weiter«, sagte er. »Sie bleiben hier.«
    Sie schüttelte entschieden den Kopf.
    »Ich habe Ihnen das Versprechen gegeben, Sie zu demSchloss zu bringen. Das möchte ich halten, wenn Sie nichts dagegen haben.«
    Er hatte keine Lust zu streiten. Außerdem wusste er nun, wozu sie fähig war. So nickte er nur, und sie gingen weiter.
    Die Kälte drang tief in ihre Lungen ein. Sie schmerzten beim Atmen. Ethan war es, als habe er winzige Glassplitter eingesogen. Sie banden sich Tücher vor den Mund, aber die wurden rasch feucht und gefroren bei den arktischen Temperaturen. Von dem schmalen Pfad gab es kein Abweichen. Ethan musste an die Wälder um Woodmancote denken, wo er als kleiner Junge Kaninchen gejagt hatte. Damals war ihm das als ein großes Abenteuer erschienen.
    Dann traten die Bäume plötzlich zurück, und vor ihnen lag eine große weiße Fläche. Im dunklen Forst war ihnen entgangen, dass die Wolken sich inzwischen verzogen und einen fast vollen Mond freigegeben hatten, der an einem von Sternen übersäten Himmel hing. So etwas hatte Ethan noch nie gesehen. Die verschmutzte Luft Westeuropas reichte nicht bis hierher. Kein Licht der Erde kam gegen dieses Strahlen an. Die Sterne schienen ineinandergerührt – Galaxie auf Galaxie – wie geschlagener Eischnee in einer riesigen Schüssel.
    Es war, als hätte ein großer Bühnenbildner alle seine Scheinwerfer aufgeboten, um das Herzstück seiner Inszenierung ins rechte Licht zu rücken.
    »Vár Farkasnak«, sagte Ilona. »Die Wolfshöhle.« Mit der rechten Hand wies sie über die Schneewehen zu einem hohen Bauwerk, das über ihnen aufragte wie ein Schiff, das weiße Wellen durchpflügt. Die steil abfallenden Dächer waren von Türmen durchbrochen, gekrönt von Laternen, deren lange Spitzen sich wie Lanzen in den Nachthimmel bohrten. Die Schlossgebäude lagen in tiefem Schatten.Bäume hatten sich einzeln oder in Gruppen bis an ihre Mauern herangewagt. Hinter einem Fenster hoch oben im zweiten Stock über einem Stützpfeiler an der nördlichen Ecke brannte ein einsames Licht.
    Ethan wollte aus der Deckung des Waldes direkt auf die weiße Lichtung treten, aber Ilona packte ihn beim Arm und schüttelte den Kopf.
    »Wenn dort drin jemand Wache hält, dann sieht er Sie sofort. Wir müssen unter den Bäumen bleiben und versuchen, von hinten an das Schloss heranzukommen.«
    So schlichen

Weitere Kostenlose Bücher