Die zweite Kreuzigung
sich zusammensackenlassen, um den Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dann hatte sie das Messer in seine Leistenbeuge gestoßen und nach oben gezogen, bis sie auf Knochen stieß. Ilona ging zur Jagd, seit sie sieben Jahre alt war. Das letzte Mal lag erst zwei Wochen zurück. Aber einen Menschen hatte sie noch nie getötet. Gewissensbisse kamen ihr dabei nicht.
Der zweite Mann stand fast neben ihr und hielt Sarah fest umschlungen. Er hatte ein Messer wie sein Bruder und war an das Töten von Menschen gewöhnt. Ein Kind und zwei Frauen gingen auf sein Konto. Trotzdem wurde er jetzt ein wenig nervös. Er hatte strikten Befehl, der Frau, die er gepackt hielt, kein Haar zu krümmen. Sie war für Egon wichtig. Man konnte ihr zwar die Kleider vom Leibe reißen und mit ihr spielen, aber verletzen durfte man sie nicht. Das stand nur Egon zu, allein oder mit Lukács’ Hilfe. Der Mann kam zu dem Schluss, sie sei zu schwach, um wegzulaufen. Er ließ sie los und fuhr herum, um seinen Bruder zu rächen, der auf den Stufen ausblutete.
Er schwang sein Messer, ein Bajonett aus dem Ersten Weltkrieg, gegen Ilona. Er war viel größer als sie, aber nicht viel älter. Er spreizte die Beine, um sich auf sie zu werfen, ihre Hand mit dem Messer auszuschalten, sie umzustoßen. Zwar bestürzt über den Tod seines Bruders, bewahrte er einen kühlen Kopf, hob sich auf die Ballen, kniff die Augen zusammen, atmete tief durch und setzte zum Sprung an. Ilona wich nicht von der Stelle, wusste jedoch, dass er sie überwältigen würde, wenn er sprang. Sie war eine erfahrene Jägerin, hatte aber noch nie einen Zweikampf bestehen müssen.
Als er zum Absprung in die Knie ging, schoss ihn Ethan zweimal in die Schläfe. Noch mehr Blut strömte auf dieStufen und über Sarah. Der große Kerl schwankte, drehte sich und fiel zu Boden.
»Fragen Sie Lukács, wo Aehrenthal ist«, sagte Ethan zu Ilona. Die zitterte stark. Ethan dagegen war tief ergrimmt. Seine Stimme klang jetzt erbarmungslos. Sarahs Anblick hatte ein Feuer in ihm entfacht. Ihr Zustand, die Art und Weise, wie Aehrenthal und dessen Männer mit einer schönen, intelligenten Frau umgesprungen waren und sie zu einem Schatten ihrer selbst erniedrigt hatten. Er hatte schon oft in seiner Laufbahn mit Vergewaltigungsopfern zu tun gehabt, Frauen jeden Alters, sogar Kindern. Aber was man Sarah angetan hatte, erschien ihm einzigartig. Es war, als hätte sie sich dabei selbst verloren, wäre zu einer anderen, zu einem benutzten Gegenstand geworden.
Ilona konnte ihn jetzt nicht im Stich lassen. Sie nahm sich zusammen und übersetzte Lukács Ethans Frage. Der lachte nun nicht mehr. Er nahm sich Zeit, als erwarte man eine weniger schnoddrige Antwort von ihm. Schließlich presste er einige Sätze hervor. Ilona nickte.
»Er sagt, Aehrenthal sei nicht da, und Sie verschwenden Ihre Zeit. Er sagt, wenn Sie hier lebend herauskommen wollen, sollen Sie die Waffe wegnehmen und ich mein Messer auf den Boden legen. Er sagt, Sie hätten sich in tiefes Wasser gewagt. Darin werden Sie ertrinken. Er sagt, wenn Sie Sarah nicht mitnehmen, dann lässt er Sie gehen. Sie weiß zu viel, sagt er.«
»Sagen Sie ihm, er soll verstehen, dass ich nicht bis hierher gekommen bin, um Sarah jetzt zurückzulassen. Ich werde noch mehr Männer erschießen, sagen Sie ihm das.«
Dabei fragte sich Ethan, wie viele Leute Aehrenthal wohl in diesem Schloss stationiert hatte und wie lange es dauernkonnte, bis auf die Schießerei weitere Männer gelaufen kamen.
Lukács rief seine verbliebenen Spießgesellen zu sich und begann die Treppe heraufzusteigen. Dabei knurrte er und warf Ilona etwas auf Ungarisch hin.
»Er sagt, er hätte Ihr Weib schon ein Dutzend Mal gehabt, und er wird sie sich jetzt vor Ihren Augen nehmen, bevor er Sie erledigt.«
Ethan behielt Lukács scharf im Auge. Hoffte er, dass er mit seinen Kumpanen ihn und die beiden Frauen so einschüchtern konnte, dass er nachgab?
Lukács aber hatte etwas anderes im Sinn. Das Letzte, was Ethan von einem Mann seiner körperlichen und geistigen Schwerfälligkeit erwartet hätte, war ein so rascher Schachzug. Bevor Ethan auch nur reagieren konnte, war Lukács die Treppe heraufgestürmt, an Ethan vorbei, der zu spät schoss und ihn verfehlte, und hatte sich auf Sarah gestürzt. Er packte sie beim Genick, ließ ihre Arme frei, drehte sie Ethan zu und benutzte sie als lebenden Schild. In seinen Armen wirkte sie wie ein Kind. Dabei brüllte er Ilona etwas zu, die rasch und mit brüchiger
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