Die zweite Kreuzigung
herunterschlangen, wenn sie einen Bär geschossen hatten und ihn in ihr Dorf schleppen wollten. Hunger leiden mussten sie hier jedenfalls nicht.
Eine Stunde später waren Ethan und Ilona satt, nur Sarah saß immer noch völlig teilnahmslos am Feuer. Sie brauchte dringend Hilfe, aber Ethan zweifelte, dass er in der Lage war, sie ihr zu geben.
In dem kleinen Schlafraum standen vier Pritschen. Mit Ilonas Hilfe brachte Ethan Sarah zu Bett. Obwohl sie lange am Feuer gesessen hatte, zitterte sie nach wie vor. Sie deckten sie mit allem zu, was sie finden konnten, und behielten nur je eine Decke für sich selbst.
»Wir reden morgen über alles, Ethan«, sagte Ilona schließlich. »Dann gehe ich nach Sâncraiu. Ich glaube nicht, dass wir Sarah den Marsch schon zumuten können.«
Gesagt, getan. Ilona stieg mehrmals nach Sâncraiu hinunter, um sich umzuhören und die Vorräte aufzufüllen. Wenn sie fort war, blieb Ethan bei Sarah in der Hütte, redete lange mit ihr und half ihr dabei, ins reale Leben zurückzufinden. Sie hatte Schreckliches erlebt und konzentrierte sich nur darauf, es zu vergessen. Sie war aus ihrem gesamten bisherigen Leben gerissen worden. Und wenn dieses Trauma auch nur von kurzer Dauer gewesen war, so hatte es doch tiefe Spuren hinterlassen. Vor dem völligen Zusammenbruch hatte sie nur ihre innere Widerstandsfähigkeit bewahrt. Ethan wünschte, er hätte sie vorher so gut gekannt, dass seine Stimme ihr vertrauter erschienen wäre.Ilona brachte von zu Hause englische Bücher mit, und Ethan las Sarah bei jeder Gelegenheit vor – Dickens, Austen und lange Passagen von PG Wodehouse. Wenn er aus dem Wodehouse las, musste sie manchmal lachen.
Die Zeit verrann wie Wasser, das unter einer Eisdecke davonfließt. Um sie herum schien sich nichts zu regen, weder im Wald noch am Himmel oder in dem steinhart gefrorenen Boden. Ständig mussten sie an das Schloss denken, von dem sie sich so weit wie möglich fort wünschten. Aber für ein Entrinnen gab es keine Chance, solange Sarah nicht noch mehr bei Kräften war. In Sâncraiu erkundigte sich einer nach Fremden, einem Mann und einer Frau. Er bekam keine ehrliche Antwort. Ilona meinte allerdings, das sei nur eine Frage der Zeit.
Inzwischen benutzte Ethan Ilonas Mobiltelefon. Er bat Lindita, einen zweiten falschen Pass für Sarah anzufertigen, der rumänische Einreisestempel trug. Lindita versprach, ihn in ein, zwei Tagen abzuschicken. Ethan fotografierte Sarah mit Ilonas Digitalkamera. Es entstand das Bild einer wesentlich älteren tiefernsten, fast gebrochenen Frau. Von ihrem PC im Haus der Familie schickte Ilona es direkt an Lindita in Gloucester.
Die Zeit verstrich wie Schnee aus grauen Wolken, der durch Dunkel und Licht treibt. Ethan war jeden Tag mit Sarah zusammen, sprach mit ihr, las ihr vor oder sah sie nur schweigend an. Sie schlief viel und hatte häufig Alpträume. Dann setzte er sich an ihr Bett, hielt ihre Hand und flüsterte beruhigend auf sie ein.
Allmählich kam sie wieder zu sich. Die Narben auf ihrer Seele brannten noch, das konnte er erkennen, aber mit jedem Tag lebte ihr Geist auf. Er wünschte, er wäre ihr Geliebter, nicht nur ihr Freund, so stark war sein Gefühlfür sie geworden. Aber vor der Versuchung der Liebe scheute er zurück, solange sie noch traumatisiert war, auch wenn er sanft ihre Hand streichelte oder eine Haarsträhne aus ihrer Stirn schob.
Eine Woche verging, dann eine zweite. Ilona berichtete aus Sâncraiu, Egon Aehrenthal sei mit einer ganzen Gruppe seiner Männer dort aufgetaucht und ziehe überall Erkundigungen ein. Doch niemand gab ihm die Antwort, die er brauchte. Mochte Ilona auch bereits in die Großstadt gegangen sein, in Sâncraiu gehörte sie immer noch dazu.
»Wir müssen von hier fort«, sagte sie. »Es kann nicht mehr lange dauern, dann hat er euch beide entdeckt. Es gibt Leute, die hier in den Wäldern illegal Schnaps brennen. Wenn es sehr kalt wird oder ihnen der Proviant ausgeht, suchen sie manchmal solche Jagdhütten auf. Wenn sie euch hier finden und vielleicht wissen, dass Aehrenthal euch sucht, sind sie im Castel Lup, bevor ihr auch nur mit dem Frühstück fertig seid.«
Zwar hatte sich Sarah gut erholt, aber Ethan glaubte nicht, dass sie schon imstande war, mit ihnen auf den Marsch zu gehen. Nach wie vor schwankte ihre Stimmung, manchmal von einer Minute zur anderen. Bald hatte sie Panikattacken und erlebte noch einmal den Schrecken der Entführung. Dann wieder raste sie vor Wut über die
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