Die Zweite Legion: Das Geheimnis von Askir 2 (German Edition)
und seine Miene sagte, dass er jedes Wort so meinte. Ich sah, wie die alte Frau in sich zusammensackte und ihr Sohn neben sie trat, um sie zu stützen. Noch bewegte sich der jugendliche Brustkorb, noch hielt das Leben die Essera Faihlyd an diesem Ort. Doch die Wunden waren fürchterlich und ich teilte die Ansicht des Priesters: Bald würde die junge Sera vor unserem Gott stehen.
Ich sah den Gram auf den Gesichtern aller um uns herum. So jung wie sie war, hatte diese Frau die Herzen der Menschen doch erobert. Wer war sie, dass sie schon so viele so tief berührte?
Ich betrachtete ihr Gesicht genauer und fand eine Antwort. Manchen Menschen gaben die Götter etwas ganz Bestimmtes. Es war nicht an einer Einzelheit festzumachen, aber andere Menschen erkannten es, wenn sie es sahen. Es gab Menschen, in deren Antlitz man für sich Hoffnung finden konnte. Hoffnung, das letzte Geschenk der Götter an die Menschen.
Der andere Priester war nicht mehr zu sehen, hatte mit mir Platz gemacht, er war wohl hinter mich getreten. Von dort hörte ich seine ruhige Stimme.
»Ein Mensch hat für sie dieses Schicksal vorgesehen. Götter planen anders, und wie für Euch ist auch für sie die Zeit noch nicht gekommen. Nun wisst Ihr, warum ein Dieb Euch heute in dieses Haus brachte. Ihr könntet nun den Chirurg daran erinnern, dass er heute schon einmal ein Wunder gewirkt hat. Es wird ihm die Zuversicht und den Glauben geben, den er für dieses Werk benötigt. Tut dies, indem Ihr ihm mit Eurer geheilten Hand ein ganz bestimmtes Döschen reicht …«
Ich beugte mich vor und berührte die Schulter des Chirurgen. Er sah zu mir – alle sahen zu mir –, als ich ihm mit meiner rechten Hand eine goldene Nadel und ein Döschen reichte. Nur ein feiner Strich an meinem Handgelenk war von seiner Operation noch zurückgeblieben, seine Augen weiteten sich, als er das sah.
»Priester«, sagte ich. »Beginnt Euer Werk, Soltar wird Euch leiten. Und ihr alle, auch die Familie, weicht zurück, damit ihr das Werk des Chirurgen und unseres Gottes nicht behindert.«
Man sah mich an, entfernte sich von dem blutigen Tisch, unter dessen Fuß eine Schale mit Blut überfloss. Der Priester schloss die Augen, ergriff das Gefäß mit dem Branntwein und fing an, die Wunden zu waschen.
Langsam erhob ich mich, alle Augen waren auf die Hände des Priesters gerichtet, niemand sah auf mich, als ich im Stillen meine Sachen an mich nahm und mich abseits des Geschehens wieder ankleidete. Eine Gruppe von Priestern hatte sich mittlerweile zu dem Chirurgen begeben, kniete hinter ihm und sang leise eine Lobpreisung an den Herrn des Todes, eine Totenmesse für diese junge Frau.
Als ich fertig angekleidet war, sah ich mich im Tempel um. Ich konnte einen ganz bestimmten Priester nicht erblicken. Also begab ich mich vor die Stufen, die zu Soltars verhüllter Figur führten.
»Ich danke Euch, Herr.« Natürlich erhielt ich keine Antwort. Aber ich lächelte, als ich mich abwandte und durch das Tor sein Haus verließ. Ich ging die Stufen des Tempels hinunter und massierte die kribbelnden Finger meiner rechten Hand.
Drinnen hörte ich die Priester singen.
Das Döschen ließ ich zurück, denn das Garn darin, so wusste ich, würde aufgebraucht sein, wenn die Essera Faihlyd ihre Augen wieder öffnete.
25. Das Ritual der Vergebung
Um den Jungen an der Säule hatte sich eine kleine Gruppe gebildet, wieder waren darunter Stadtsoldaten, die teilnahmslos zusahen. Als man mich die Treppe des Tempels herunterkommen sah, öffnete sich ein Weg zu ihm.
Ich trat neben den Jungen, setzte ihm meinen Fuß an den Hals und zog mit meiner rechten Hand Seelenreißer aus dem Stein. Die Augen des Jungen weiteten sich noch mehr, als er meine geheilte Hand wahrnahm. Ich fixierte einen Stadtsoldaten. »Ich fühle mich durch diese Blicke belästigt.«
Die Wache, die ich angesprochen hatte, zog eine Augenbraue hoch. »Fremder, die Götter mögen uns verzeihen, dass wir unserer Arbeit nachgehen und Euch damit zu nahe treten. Wäre es nicht besser, Ihr bringt den Jungen zum Gericht und kehrt zurück in Eure Bleibe, denn steht es nicht geschrieben, dass ein jeder sich dort am wohlsten fühlt, wo sein müdes Haupt ruhen kann? Habt Ihr einen solchen Ort in unserer goldenen Stadt gefunden? Oder seid Ihr ohne ein Obdach in unseren Mauern?«
»Ich habe ein Dach über dem Kopf«, antwortete ich ihm, als ich Seelenreißer in seine Scheide führte.
»Es ist auch unsere Aufgabe, verirrten Reisenden den Weg
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