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Die zweite Stufe der Einsamkeit

Die zweite Stufe der Einsamkeit

Titel: Die zweite Stufe der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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Auto ist schon ziemlich veraltet, seit man damals, 93, mit der Massenproduktion von billigen Koptern begann. Und die letzten Lebenszeichen, die danach noch übriggeblieben waren, sind durch die Erfindung des individuellen Gravpaks endgültig und vernichtend erledigt worden.
    Aber das war anders, als ich noch ein Kind war. Damals hatte jeder ein Auto, und man wurde als eine Art sozialer Außenseiter angesehen, wenn man nicht seinen Führerschein bekam, sobald man alt genug war. Ich hab’ damit angefangen, mich für Autos zu interessieren, als ich so 18 oder 19 war, und ich bin seither immer interessiert geblieben.
    Als mein Urlaub näherrückte, dachte ich mir jedenfalls, das wäre eine Gelegenheit, meine letzte Entdeckung auszuprobieren. Es war ein toller Wagen, ein englisches Sportmodell aus den späten 70ern. Jaguar XKL. Keiner von den Klassikern, stimmt, aber trotzdem ein schönes Auto. Auch gut zu fahren.
    Ich brachte wie immer den Großteil der Fahrt nachts hinter mich. Es ist etwas Besonderes am Nachtfahren. Die alten, verlassenen Autobahnen haben im Sternenlicht eine ganz bestimmte Atmosphäre, und man kann sie fast so sehen, wie sie einmal waren – lebenswichtig und vollgestopft und voller Leben, mit Autos, dichtgedrängt, Stoßstange an Stoßstange, soweit das Auge reichte.
    Heute gibt es nichts dergleichen mehr. Nur die Straßen selbst sind übriggeblieben, und die meisten sind rissig und von Unkraut überwuchert. Die Staaten können sich nicht mehr damit abgeben, können sich nicht mehr darum kümmern – zu viele Leute hätten etwas gegen diese Verschwendung von Steuergeldern. Aber auch sie aufzureißen wäre zu teuer. Deshalb liegen sie einfach da, Jahr um Jahr in langsamem Zerfall. Doch die meisten sind noch befahrbar; man hat die Straßen gut gebaut, damals, in den alten Tagen.
    Es gibt noch immer etwas Verkehr. Autonarren wie ich natürlich. Und die Schwebelaster. Die können einfach überall fahren, aber auf ebenen Oberflächen können sie schneller fahren. Also halten sie sich ziemlich genau an die alten Autobahnen.
    Es ist irgendwie ehrfurchteinflößend, wenn man nachts von einem Schwebelaster überholt wird. Sie schaffen etwa zweihundert oder so, und kaum hat man einen im Rückspiegel bemerkt, da ist er auch schon über einem. Man sieht nicht viel – bloß einen langen Silberschatten und ein Kreischen, wenn er vorbeirauscht. Und dann ist man wieder allein.
    Jedenfalls war ich mitten in Arizona, knapp außerhalb San Bretas, als mir zum ersten Mal etwas an der Autobahn auffiel. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir darüber nicht sonderlich viele Gedanken gemacht. Oh, sie war ungewöhnlich, klar, aber so ungewöhnlich auch wieder nicht.
    Die Autobahn selbst war ziemlich normal. Es war eine achtspurige Piste mit einem guten, schnellen Belag, und sie verlief gerade von Horizont zu Horizont. In der Nacht war sie wie ein glänzendes schwarzes Band, das durch den weißen Wüstensand führte.
    Nein, es war nicht die Autobahn, die ungewöhnlich war. Es war ihr Zustand. Zuerst habe ich es nicht bewußt bemerkt. Es hat mir zuviel Spaß gemacht. Es war eine klare, kalte Nacht, und die Sterne standen am Himmel, und der Jaguar lief wie eine Eins.
    Lief zu gut. Da dämmerte es mir. Es gab keine Beulen, keine Risse, keine Schlaglöcher. Die Straße war im Bestzustand, fast so, als wäre sie gerade erst gebaut worden. Oh, ich bin schon früher auf guten Straßen gewesen. Einige waren einfach besser erhalten als andere. Außerhalb von Baltimore gibt es eine Strecke, die ist hervorragend, und Teile des L.A.-Autobahnnetzes sind auch ganz gut.
    Aber ich bin noch nie auf einer so guten gewesen. Es fiel schwer zu glauben, daß eine Straße nach all diesen Jahren ohne Reparatur in solch einem guten Zustand sein konnte.
    Und dann waren da noch die Lichter. Sie brannten alle, brannten alle hell und klar. Nicht eines war kaputt. Nicht eines war aus oder blinkte. Teufel, und überhaupt – nicht eines war schwach. Die Straße war wundervoll beleuchtet.
    Danach ging es los: Ich bemerkte die anderen Dinge. Beispielsweise die Verkehrszeichen. An den meisten Stellen sind die Verkehrszeichen längst verschwunden – von Souvenirjägern oder Antiquitätensammlern entfernt, eine Erinnerung an ein älteres, langsameres Amerika. Niemand ersetzt sie – sie werden nicht gebraucht. Von Zeit zu Zeit entdeckt man eines, das vergessen wurde, aber es ist nie etwas anderes übrig als ein komisch geformter, verrosteter Brocken

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