Die zweite Tochter: Thriller (German Edition)
zwei, drei.
Los.
61
Jills Körper schoss nach unten. Sie schnappte sich den EpiPen, riss mit den Zähnen die Kappe herunter, warf sich nach vorn und stieß die lange, dicke Nadel direkt in Cohz’ Halsschlagader.
Der Mann riss die Augen auf, seine Lippen öffneten sich vor Schock und Schmerz.
Um jeden eventuellen Schrei zu ersticken, presste sie die Hand auf seinen Mund. Der EpiPen würde ihn nicht töten, aber lang genug außer Gefecht setzen, um einen Vorsprung für sie und Victoria zu gewährleisten. »Los! Los! Los!«, zischte sie Victoria zu.
»Oh!« Victoria fasste nach dem Türgriff, stieß die Tür auf, Jill, direkt hinter ihr, schob sie aus dem Wagen.
»In den Wald! Los!«
»Hilfe!«, schrie Victoria. Jill hatte nicht die Zeit, ihr zu erklären, dass das das Dümmste war, was sie tun konnte.
»Halt!«, rief Donator. Er stand etwas erhöht hinter ihnen auf der Straßenseite.
Jill packte Victoria bei der Hand. Gemeinsam rannten sie in den Wald und jagten geduckt unter tief hängenden Zweigen hindurch, von denen sich immer wieder einige in ihren Haaren verfingen. Der Wald wurde dichter, es wurde immer schwerer, sich einen Weg zu bahnen. Sie sprangen über am Boden liegende Äste. Dunkelheit und Kühle nahmen zu.
Victoria keuchte. Wie wild bewegten sich ihre Arme und Beine. Ihr Jackett zerriss an einem Ast.
Jill rannte keuchend und schützte mit den Händen ihr Gesicht. Um Schmerz zu empfinden, pumpte zu viel Adrenalin durch ihre Adern. Zusammen bahnten sie sich wie bei einem Geländerennen ihren Weg durch die Bäume und versuchten dabei nicht über Unterholz und Gestrüpp zu stolpern. Zweige, Steine und welkes Laub bedeckten den Boden. Es gab keinen Pfad oder Weg. Da die Bäume dicht an dicht standen, konnten sie nicht nebeneinander laufen.
»Hilfe! Hilfe!«, schrie Victoria.
Ein Schuss fiel aus nächster Entfernung.
Jill duckte sich beim Laufen. Panische Angst befiel sie. Donator verfolgte sie, aber sie wusste, was zu tun war.
»Du rennst nach links«, rief sie Victoria zu, »ich nach rechts, verstanden?« Sie rang nach Luft.
»Aber warum?«
»Mach einfach, was ich dir sage. Ich lenke ihn ab.«
»Nein!« Victoria griff nach ihrem Arm, aber Jill stieß sie von sich. Sie tat es ungern, aber es musste sein.
»Hör auf mich! Lauf nach links! Wir müssen uns trennen! Zusammen schaffen wir es nie!«
»Nein.«
Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Tränen liefen über Victorias Wange, sie hatte Todesangst. In diesem Moment spürte Jill, dass sie wieder Mutter und Tochter waren.
»Ich hab dich lieb, mein Schatz. Aber jetzt geh und hole Hilfe!«
»Nein!«
»Doch!«
Jill drehte sich nach rechts und schrie, um Donators Aufmerksamkeit auf sich lenken:
»Hilfe! Hilfe, Polizei! Hört mich denn niemand?«
Ein zweiter Schuss wurde abgefeuert, diesmal aus noch näherer Entfernung.
Jills Plan schien funktioniert zu haben. Sie war jetzt auf sich allein gestellt. Sie duckte sich und rannte um ihr Leben.
62
Der nächste Schuss fiel, der Schütze kam immer näher.
»Hilfe!« Jill mobilisierte ihre letzten physischen Reserven und beschleunigte. Mit den Händen stieß sie die Zweige vor ihren Augen weg. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Sie schwitzte und blutete. Vielleicht lief sie sogar im Kreis? Egal. Nur eines wusste sie ganz sicher: Sie war auf der Flucht.
Ihre Brust hob sich bei jedem Atemzug. Die Beine schmerzten, sie begann zu taumeln. Dorniges Gestrüpp kratzte über Hände und Unterarme. Sie verfing sich in einer Rankenpflanze, die sie ausriss, um sich zu befreien. Wie lange würden ihre Kräfte noch ausreichen? Bestimmt würde Donator sie bald einholen. Auch Cohz würde bald wieder zu Bewusstsein kommen und ihre Verfolgung aufnehmen.
Dann erkannte sie durch die Bäume etwas wie eine Lichtung. Es war seltsam hell. Sie wusste nicht, was sie dort finden würde, aber sie musste dorthin. Zurück in die Zivilisation.
»Hilfe!«, schrie sie hoffnungsvoller.
Ein weiterer Schuss.
Diese Kugel zischte nur knapp an ihr vorbei. Sie nahm die Beine in die Hand. Sie musste sich in Sicherheit gebracht haben, bevor Donator ganz aufschloss. Wie viel Munition er wohl noch hatte? Die Lichtung war wie ein Versprechen. Sie gab ihr neue Kraft.
Ein Zweig, scharf wie ein Steakmesser, schlitzte ihr die Wange auf. Sie schrie kurz auf und rannte und rannte. Immer wieder hieb sie mit den Armen tote Äste beiseite, die ihren Weg versperrten. Da, endlich. Sonne, Dächer und Häuser.
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