Die zweite Todsuende
was geht man einfach nicht hausieren.»
«Nein», sagte Delaney. «Das tut man wohl nicht. Sie sagen, Sie haben keine Veränderung an ihm entdecken können? Weder in seinem Verhalten noch in seiner Persönlichkeit?»
«Richtig. Keinerlei Veränderung.»
«Er hat, soweit Sie wissen, auch keine besonderen Pläne geschmiedet? Todeskandidaten versuchen meistens, Ordnung in ihr Leben und in ihre Angelegenheiten zu bringen.»
«Er hat nichts Außergewöhnliches getan. Jedenfalls nicht, daß ich wüßte.»
«Gut», sagte Delaney, seufzte und trank sein Bier aus. «Auf jeden Fall hat er nicht viel Mühe darauf verwendet, seine Frau und seinen Sohn wohlversorgt zurückzulassen. Sie erben zwar, aber nicht viel.»
«Sie werden schon ganz gut zurechtkommen», erklärte Geltman kurz. «Durch den Verkauf der letzten Bilder. Selbst nach Abzug der Steuern werden sie mit einer halben Million dastehen. Mindestens. Um sie braucht man keine Träne zu weinen. Noch ein Bier, Chief?»
«Nein, vielen Dank. Das war gerade recht.»
Abermals sah er auf den Balkon hinaus. Die Jünglinge lagen wieder wie hingegossen in ihren Drahtstühlen. Noch während Delaney hinsah, warf einer von ihnen, ein goldblonder Bursche, den Kopf in den Nacken, hielt das Weinglas hoch über sich und ließ die letzten Tropfen Wein in den Mund und auf sein Gesicht fallen. Der andere lachte.
«Es handelt sich um eine Muskelkrankheit», sagte Delaney, «soweit ich verstanden habe.»
«Ja», bestätigte Geltman.
«Und das hat sich auf seine Malerei nicht ausgewirkt? In all den fünf Jahren nicht?»
«Nicht merklich», antwortete der Kunsthändler.
«Was soll das heißen?»
«Daß die Käufer es nicht merkten», erklärte Geltman. «Und die Kritiker auch nicht. Wohl aber Maitland. Und ich.»
«Wie denn? Inwiefern hat es seine Malerei beeinflußt?»
«Er sagte, er empfinde nicht eigentlich Schmerzen, wohl aber eine gewisse Steifheit. In der Hand, in den Armen, den Schultern. Deshalb nahm er etwas, was anscheinend dagegen half.»
«Poppers ?»
«Ja.»
«Bezog er die von Belle Sarazen?»
«Woher er sie bekam, weiß ich nicht.»
«Aber sie haben geholfen?»
«Das hat Vic jedenfalls behauptet. Er sagte, sie lockerten ihn auf. Sie können das in seinen Bildern erkennen, denen, die er im letzten oder in den letzten beiden Jahren gemalt hat. Die waren lockerer, die Linienführung nicht so streng, die Farben heller, leuchtender. Das ist eine ziemlich subtile Angelegenheit. Ich glaube, nur Vic und ich haben es gesehen. Anderen jedenfalls ist diese Veränderung nicht aufgefallen. Es waren immer noch dieselben alten Maitlands. Immer noch genauso schön und genauso evokativ, genauso erregend.»
«Jawohl», sagte Delaney. «Erregend.»
Er raffte sich aus seinem Sessel hoch und räusperte sich.
«Ich danke Ihnen, Mr. Geltman», sagte er. «Dafür, daß Sie mich empfangen haben. Und für das Bier.»
«Es war mir ein Vergnügen.» Der kleine Mann stemmte sich aus dem Klubsessel hoch, ließ sich über die Armlehne rutschen und landete behend auf den Füßen. «Hoffentlich hat es was genützt. Sie kommen voran, nicht wahr?»
«O ja», sagte der Chief. «Durchaus.»
«Gut», sagte Geltman. «Freut mich zu hören.»
Sie traten in die Diele. Delaney ließ seine Blicke noch einmal in dem zauberhaften Raum umherwandern.
«Wirklich ein Traum», sagte er.
«Ja», sagte Saul Geltman nachdenklich und sah Delaney an. «Genau das ist es: ein Traum.»
Dann warf Delaney noch einen Blick hinaus auf die Terrasse.
Die beiden jungen Männer standen wieder an der Balustrade. Ihr langes, feines Haar loderte im Wind wie Flammen. Einer hatte den Arm um die Hüfte des anderen gelegt.
Wieder glaubte Delaney eine alte Fotografie zu betrachten, die er schon gesehen hatte. Weißgekleidete Jünglinge vor einem chinablauen Himmel. Kein Gedanke an ein Morgen, an eine Zeit, die Zukunft heißt. Nichts als ein nimmer endendes Jetzt, eingefangen und festgebannt.
«Schön, nicht wahr?» bemerkte Saul Geltman leise.
Delaney lächelte ihn milde an. Dann zitierte er: «Goldene Jungen und Mädchen - wie der Schornsteinfeger, werden auch sie zu Staub.»
Damit ging er, während Saul Geltman versuchte, erschlafften Gesichts und widerstrebend, eine Antwort darauf zu finden.
15
Ab Mittwoch der folgenden Woche hatten sämtliche Polizeireviere in Manhattan Kopien von den Phantombildern der alten Frau und des jungen Mädchens aus der Hand des Polizeizeichners. Auch an Zeitungsredaktionen und
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