Die zweite Todsuende
Woche. Aber er zeigt…»
«Wie lange geht das jetzt schon so?»
«Fast drei Jahre. Aber sein Analytiker sagt…»
«Ist er jemals gewalttätig geworden?»
«Nein. Na ja, er …»
«Seinem Vater gegenüber? Hat er seinen Vater jemals bedroht oder angegriffen?»
«Sie lassen mir ja keine Zeit zu antworten!» rief sie gehetzt.
«Die Wahrheit braucht keine Zeit», versetzte er bissig. «Möchten Sie, daß ich mich bei dem Mädchen erkundige? Dem Portier? Den Nachbarn? Hat Ihr Sohn seinen Vater jemals angegriffen?»
«Ja», flüsterte sie.
«Wie oft?»
«Zweimal.»
«Im Laufe des letzten Jahres?»
«Ja.»
«Schlimm? Ist einer von beiden dabei verletzt worden?»
«Nein, es war bloß …»
«Mrs. Maitland!» herrschte er sie an.
Sie ließ sich in einen Sessel fallen und kauerte sich darin zusammen. Ihm entging aber nicht, daß es ein anmutiges Fallen war und daß sie auch in dieser Haltung einen angenehmen Anblick bot; die Knie zusammengenommen und zur Seite gewendet, die Fußgelenke züchtig übereinandergelegt. Der gebeugte Kopf mit der flammenden Haarkrone ließ eine reizvolle Nacken- und Schulterlinie erkennen. Victor Maitland, ging es Delaney durch den Sinn, war nicht der einzige Künstler in der Familie.
«Nun?» fragte er.
«Einmal haben sie sich geprügelt», sagte sie benommen. «Victor hat ihn zu Boden geschlagen. Es war schrecklich.»
«Und das andere Mal?» Er ließ nicht locker.
«Da hat Ted ihn angegriffen. Unerwartet. Ohne jeden Grund.» Ihre Worte überstürzten sich.
«Ihn angegriffen? Mit den Fäusten? Mit einer Waffe?»
Sie konnte oder wollte nicht antworten.
«Mit einem Messer», sagte Delaney. Es war eine Feststellung, keine Frage.
Sie nickte, ohne aufzublicken.
«Was für ein Messer? Ein Jagdmesser? Ein Schnitzmesser?»
«Ein Küchenmesser», murmelte sie. «Ein harmloses Ding. Zum Gemüseputzen.»
«Ist Ihr Mann verletzt worden?»
«Es war nur eine kleine Schnittwunde am Oberarm. Nicht tief. Nicht der Rede wert.»
«Wurde ein Arzt gerufen?»
«O nein. Nein. Es war ja nur ein Kratzer. Nichts. Victor wollte keinen Arzt. Ich … ich habe ihn desinfiziert und verbunden. Mit Heftpflaster. Es war wirklich nichts weiter …»
«Wie heißt Ihr Hausarzt? Und wo hat er seine Praxis?»
Sie sagte es ihm, und er notierte sich sorgfältig Namen und Anschrift.
«Besitzt Ihr Sohn ein Messer? Ein Jagdmesser, Klappmesser, Taschenmesser? Irgend etwas dergleichen?»
«Nein», sagte sie und schüttelte den Kopf. «Er hatte eines, ein Schweizer Taschenmesser mit rotem Griff. Aber ich habe es ihm fortgenommen, nachdem er so … so …»
«Sie haben es ihm fortgenommen?»
«Ich meine, ich habe es aus seiner Nachttischschublade genommen.»
«Wo ist es jetzt?»
«Ich habe es weggeworfen. In den Müllschlucker.»
Delaney erhob sich schwerfällig, starrte auf sie herab, holte tief Luft und seufzte.
«Na schön, ich glaube Ihnen.»
Nun hob sie den Kopf und sah ihn an. Er entdeckte keine Spur von Tränen.
«Er war es nicht», sagte sie. «Ich schwöre Ihnen: Ted war es nicht. Er hat seinen Vater angebetet.»
«Ja», versetzte Delaney ungerührt. «Das hat er mir auch gesagt.»
Woraufhin er sich abwandte und zur Tür ging. Er drehte sich aber noch einmal um.
«Kannten Sie übrigens die Modelle, mit denen Ihr Mann gearbeitet hat, Mrs. Maitland?»
Erschrocken sah sie ihn an.
«Die Frauen, die Ihrem Mann Modell standen», erklärte Delaney geduldig. «Haben Sie die eine oder andere persönlich gekannt? Mit Namen?»
Sie schüttelte den Kopf. «Früher schon. Aber nicht mehr in letzter Zeit. Seit mindestens fünf Jahren nicht mehr.»
«Ich denke dabei an ein junges Mädchen, eine Puertorikanerin oder Italienerin. Jedenfalls einen lateinischen Typ.»
«Nein. Warum fragen Sie?»
Er erzählte ihr von den drei Skizzen, die in Victor Maitlands Atelier gefunden worden waren.
«Sie gehören selbstverständlich Ihnen», sagte er. «Oder vielmehr zum Nachlaß Ihres Mannes. Im Augenblick habe ich sie und gebe sie zurück, sobald die Ermittlungen abgeschlossen sind.»
Sie nickte; offenbar war es ihr egal. Er machte eine kleine Verbeugung und ging.
Gemächlich stapfte er zur Third Avenue hinüber und weiter nach Norden. Es war eine Einkaufsgegend mit Warenhäusern, eleganten Boutiquen und Schnellrestaurants, die ihre Mittagskunden abfütterten. Wer profitierte eigentlich von Maitlands Tod? Und lautete die klassische Frage korrekt Qui bono oder Cui bono? Letzteres war wohl richtig.
Cui bono?
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