Die zweite Todsuende
sammelten sich die widersprüchlichsten Informationen an, Beweismaterial häufte sich, Zeugen sagten die Wahrheit oder logen - aber wie zum Kuckuck war das alles zu bewerten? Man mußte sich alles anhören, mußte einen kühlen Kopf bewahren, durfte nicht aus der Haut fahren; es hieß gelassen zusehen, wie das Durcheinander immer größer wurde in der Hoffnung, endlich darin doch so etwas wie ein System zu erkennen. Es hatte Ähnlichkeit mit dem Verkehrsstau, auf den er Ecke Second Avenue und 66th Street stieß. Steckengebliebene Autos hupten, rotgesichtige Fahrer brüllten sich an und fuchtelten mit den Armen. Dann gelang es einem Verkehrspolizisten, den Wagen, der den Stau verursacht hatte, zum Weiterfahren zu bringen, und innerhalb weniger Minuten löste das Chaos sich auf, der Verkehr lief wieder in einigermaßen geordneten Bahnen. Wann jedoch würde er auf die entscheidende Tatsache stoßen, die ihm im Fall Maitland die Augen öffnete? Vielleicht heute, vielleicht morgen. Und vielleicht, so dachte er verdrossen, war er bereits darauf gestoßen, hatte sie nur nicht als solche erkannt.
Mrs. Alma Maitland ließ sich nirgends blicken, und dafür war Delaney dankbar. Das puertorikanische Hausmädchen führte ihn in die bekannte kalte Pracht, wo er, den Homburg auf den Knien, auf dem Rand des Sofas Platz nahm. Er wartete nahezu fünf Minuten; darin äußerte sich wohl die Feindseligkeit des Sohnes. Delaney litt geduldig.
Selbstverständlich kannte er Fotos von Victor Maitland und war, als der Sohn endlich auftauchte, von der Ähnlichkeit verblüfft. Der gleiche stämmige Körper, die gleichen massigen Schultern. Großer, vorgereckter Kopf, struppiges Rothaar. Der finstere Blick. Mächtige Hände mit spateiförmigen Fingern. Stampfender Schritt. Das Auffallendste am Gesicht des jungen Mannes waren dichte dunkle Brauen und volle Lippen, die wie gemeißelt wirkten. Später mochte es gröbere Züge und tiefe Falten aufweisen, die Lippen schmaler, der Mund eine verzerrte Grimasse. Jetzt jedoch verriet es die weiche Verletzlichkeit der Jugend. Auf Delaney wirkte es zornig, gekränkt und gierig.
Er stand auf, doch Ted Maitland machte keinerlei Anstalten, ihn zu begrüßen, geschweige denn, ihm die Hand zu schütteln. Er warf sich vielmehr in einen der hellen Lehnsessel, kauerte sich darauf zusammen und kaute wütend an der Nagelhaut eines Daumens. Er trug Jeans und ein rotes, fast bis zum Nabel offenstehendes Baumwollhemd, um den Hals die unvermeidliche Kette aus indischen Perlen; nackte Füße in Mokassins, ums Handgelenk einen Reifen aus Türkissplittern, in gehämmertes Silber gefaßt.
«Ich weiß nicht, warum ich überhaupt mit Ihnen rede», sagte der Junge frech. «Ich tue das nur, weil meine Mutter es von mir verlangt. Ich hab die ganze Geschichte schon hundertmal mit hundert anderen Polypen durchgekaut.»
Die Stimme war ein Schock für Delaney: hoch und schrill. Er fragte sich unwillkürlich, ob der Junge wohl am Zusammenklappen sei. Seine Bewegungen und seine Gesten hatten das Ruckhafte und Fahrige, das der Chief bei Menschen beobachtet hatte, die in Stacheldraht rannten oder zu schreien anfingen und nicht mehr aufhören konnten.
Folglich nahm er behutsam Platz, legte den Hut behutsam neben sich, sprach behutsam, leise und beschwichtigend in der Hoffnung, er möchte Vertrauen einflößen.
«Das weiß ich, Mr. Maitland, und es tut mir leid, Ihnen das noch einmal zumuten zu müssen. Aber Akten lesen oder mündlich berichtet bekommen, reicht nicht. Es ist immer am besten, aus der Quelle zu schöpfen. In einem Gespräch unter vier Augen läuft man weniger Gefahr, etwas mißzuverstehen, finden Sie nicht?»
«Wen interessiert schon, was ich finde und was nicht?» Theodore Maitland hielt die Augen auf den abgekauten Daumennagel gerichtet, sah auf den Teppich, zur Decke, auf die Wände, nur nicht auf Delaney. Er wollte oder konnte dessen Blick nicht standhalten.
«Ich weiß, was Sie durchgemacht haben», sagte der Chief begütigend. «Glauben Sie mir. Es dauert auch nicht lange. Nur einige wenige Fragen. Ein paar Minuten …»
Der Junge schnaubte verächtlich und schlug die Beine übereinander. Auf seine Art ein hübscher Junge, ganz der Sohn seines Vaters, zwar offensichtlich nervös, doch durchaus männlich, und Delaney fragte sich, ob er eine Freundin habe. Er hoffte es.
«Mr. Maitland», begann er, unterbrach sich aber, um zu fragen: «Hätten Sie was dagegen, wenn ich Sie Ted nenne?»
«Nennen Sie mich, wie
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