Die zweite Todsuende
Sie wollen», sagte der Junge barsch.
«Schön.» Delaney sprach immer noch langsam, leise und ruhig. «Dann also Ted. Lassen Sie mich kurz wiederholen, was Sie an dem Tag getan haben, an dem Ihr Vater getötet wurde, und sagen Sie mir, ob ich alles richtig wiedergebe. Einverstanden, Ted?»
Maitland stieß einen Laut aus, der weder Zustimmung noch Ablehnung verriet, schlug die Beine andersherum übereinander und drehte sich auf seinem Sessel so, daß er Delaney die Schulter zeigte.
«Sie haben diese Wohnung an jenem Freitag um halb zehn verlassen», begann der Chief. «An der 59th Street nahmen Sie die U-Bahn nach Manhattan Süd. Ausgestiegen sind Sie am Astor Place.
Von zehn bis zwölf hatten Sie zwei Unterrichtsstunden am Cooper Union College. Um zwölf haben Sie sich mit Ihren Kommilitonen auf der Treppe unterhalten, Sandwiches und eine Dose Bier gekauft und sind damit zum Washington Square Park rübergegangen. Dort blieben Sie bis gegen halb zwei. Sie waren wieder rechtzeitig im Institut, um von zwei bis vier am Unterricht teilzunehmen. Danach sind Sie direkt heimgefahren. Stimmt das?»
«Ja.»
«Im Park haben Sie allein gesessen?»
«Habe ich ja gesagt.»
«Und niemanden getroffen, den Sie kannten, Ted?»
Maitland fuhr herum und funkelte ihn an.
«Nein, ich habe niemanden getroffen, den ich kenne», schrie er fast. «Ich habe allein zu Mittag gegessen. Ist das ein Verbrechen?»
Delaney hielt die Hände hoch, die Handflächen nach außen gekehrt.
«Uff», sagte er. «Kein Verbrechen. Kein Mensch beschuldigt Sie! Ich versuche doch nur, zu rekonstruieren, was Sie an diesem Tag getan haben, Sie und alle anderen, die Ihren Vater kannten. Das ist doch zu verstehen, oder? Nein, es ist kein Verbrechen, sein Mittagessen allein in einem Park zu sich zu nehmen. Und ich bezweifle nicht einmal, daß Sie niemand getroffen haben, den Sie kennen. Ich bin gerade eben zu Fuß von der 79th Street hierhergekommen und habe auch keinen Menschen getroffen, den ich kannte. Das ist natürlich und normal. Essen Sie mittags für gewöhnlich allein, Ted?»
«Manchmal. Wenn mir danach ist.»
«Häufig?»
«Zwei-, dreimal die Woche. Warum? Ist das wichtig?»
«Ach, Ted», meinte Delaney leichthin, «bei einer Ermittlung wie dieser ist alles wichtig. Was studieren Sie am Cooper Union?»
«Gebrauchsgraphik», murmelte Maitland.
«Dekorationsmalerei und Drucktechniken?» fragte Delaney. «Solche Sachen?»
«Ja.» Der Junge setzte ein säuerliches Grinsen auf. «Solche Sachen.»
«Anatomie?» fragte Delaney. «Kunstgeschichte und Kunsttheorie? Layout und Design?»
Zum erstenmal begegnete Ted Maitland seinem Blick.
«Ja», sagte er widerwillig. «All das. Wieso weiß ein Polyp so was?»
«Ich bin nur Amateur.» Delaney tat das achselzuckend ab. «Ich verstehe nicht viel davon, aber …»
«Sie wissen, was Ihnen gefällt», feixte der Junge.
«Ja, richtig, das stimmt», erklärte Delaney nachsichtig. «Zum Beispiel gefallen mir die Sachen Ihres Vaters. Wie finden Sie seine Bilder, Ted?»
«Lächerlich», sagte Maitland verächtlich auflachend. «Altmodisch. Spießig. Langweilig. Überholt. Antiquiert. Verblasen. Gefühlsduselig. Unreif. Melodramatisch. Reaktionär. Reicht Ihnen das?»
«Saul Geltman behauptet, Ihr Vater sei ein bedeutender Zeichner gewesen, ein Mann, der sich fabelhaft auf Anatomie verstand, ein großer…»
«Saul Geltman!» fiel Maitland ihm heftig ins Wort und verschluckte sich fast an dem Namen. «Den Typ kenne ich.»
«Und was für ein Typ ist das?» fragte Delaney.
«Sie haben ja keine Ahnung von der Rolle, die die Kunst in der modernen Gesellschaft spielt», versetzte der Junge voller Abscheu. «Sie sind blöde!»
«Dann erklären Sie es mir doch bitte», bat Delaney. «Ich möchte lernen.»
Theodore Maitland wandte ihm offen das Gesicht zu, lehnte sich vor, stützte die Arme auf die Knie. Die dunklen Augen flammten. Das Gesicht war von Intensität ganz verzerrt, er bebte vor Begierde, sich mitzuteilen, und zitterte förmlich vor Wut.
«Eine umgekehrte Pyramide. Verstehen Sie? Die auf der Spitze steht. Und oben drauf lauter Arschlöcher wie Saul Geltman. Händler. Museumsfritzen. Kritiker. Reiche Sammler. Blutegel wie Belle Sarazen. Trendbewußte Geschäftemacher wie Jake Dukker. Verleger von Kunstbüchern und Reproduktionen. Plagiatoren. Gewissenlose Aasgeier. Neunmalkluge, die jede Vernissage besuchen und sich auf Wohltätigkeitsveranstaltungen drängen. Die ganze verdammte Schickeria! Die
Weitere Kostenlose Bücher